«Musik ist eine Kunstgattung, deren Werke aus organisierten Schallereignissen bestehen», sagt Wikipedia und fährt fort: «Zu ihrer Erzeugung wird akustisches Material, wie Töne, Klänge und Geräusche, innerhalb des für Menschen hörbaren Bereichs, geordnet.» Klarer Fall also: Oscar Bianchi hat mit «Contingency» Musik komponiert. Und «Contingency» heisst soviel wie Zufälligkeit oder Eventualität.
Jetzt sitzt Oscar Bianchi aber noch im Proberaum, tief unten im Keller des KKL. Es ist die erste Probe für dieses Stück, interpretiert vom Ensemble der Lucerne Festival Alumni. Ein Kontrabassist beginnt und es brummt aus seinem Instrument. Der Ton bleibt in der Luft hängen … und ein Waldteufel übernimmt. Waldteufel? Das ist eine Reibetrommel, ein Instrument, das auch in der Volksmusik heimisch ist, von dem viele aber wahrscheinlich noch kaum je gehört haben. Brummtrommel wird das Ding auch genannt, passt also zum Kontrabass. Bläser, Streicher und ein Perkussionist schliessen sich an.
Überraschungspotenzial
Es klingt fremd und spannend. Organisierte Geräusche mit Überraschungspotenzial. Mal keck, mal bedrohlich, dann besänftigend, aber auch aufmüpfig und verspielt, mitunter sogar geschwätzig. Dann auf einmal tröpfelnd, später lärmig, mal schüchtern, mal voll drauf. Eine klingende Wundertüte.
Oscar Bianchi hört zu, greift zwischendurch ein, bespricht sich mit dem Dirigenten und ist vom Fehler, den ein Musiker gemacht hat, so begeistert, dass er ihn gleich in sein Stück übernimmt.
Pause. Statt im tiefen Keller sitzen wir jetzt draussen an diesem hochsommerlichen Tag. Oscar Bianchi, Mitte vierzig, von der Probe noch ein bisschen verwuselt, ist halb Schweizer, halb Italiener, bevorzugt Englisch als Sprache und hat eine deutsche Telefonnummer. Dabei ist er selbst ganz unkompliziert. Schweizer ist er von der Mutter her, der Vater ist Italiener. Die Grosseltern mütterlicherseits sind aus Zürich und Wettingen, väterlicherseits ist die Grossmutter allerdings polnisch-jüdisch. Die Familiengeschichte ist recht komplex, hat aber vielleicht den Vorteil, Oscar schon als Kind mit den verschiedensten Kulturen vertraut gemacht zu haben.
Hinzu kommen fünf Jahre Studium an der renommierten Columbia University in New York, Konservatorium Mailand, IRCAM, also das Musikforschungsinstitut des Centre Pompidou in Paris, und ein Aufenthalt in Warschau, dank Pro Helvetia. Als «confusing» umschreibt er seinen Werdegang lachend. Verwirrend sei er auch für ihn selbst.
Auch das Gegenteil existiert
Nach Klärung seiner Herkunft und kulturellen Prägung kommt Bianchi wieder auf die Probe zurück. «Der Waldteufel ist ein wunderbares Instrument, aber er war noch zu zahm, zu schüchtern. Er muss mehr Tiefe, mehr Gewicht bekommen, sonst klingt er wie ein Spielzeug. Jeder Klang hat eine Würde, eine Seele, die gehätschelt werden muss, dafür ist der Interpret verantwortlich.» Es sei vielleicht ein etwas spezielles Stück, sagt Bianchi. «Jede Stimme muss ihren eigenen Charakter bekommen, und da muss man manchmal auch etwas übertreiben.
Die Musiker müssen sich bewusst sein, dass es um ‘contingency’ geht, also um Zufälligkeiten. Ausgehend vom poetischen Beginn mit dem Kontrabass wollen wir das Publikum überraschen und zeigen, dass auch das Gegenteil existiert. Wir zappen gewissermassen hin und her in diesem Stück. Aber diese verschiedenen Elemente sind einfach Teile eines Ganzen.»
Befreiung, Linderung, Selbstfindung
Dass Oscar Bianchi die Musik zu einem Beruf machte, war nicht selbstverständlich. «Ich komme nicht aus einem Musikerhaus, obwohl meine jüdisch-polnische Grossmutter sehr gut Klavier spielte. Wir Kinder haben in Mailand im gutbürgerlichen Sinne Klavierunterricht bekommen und den habe ich geliebt! So mit zehn, elf Jahren habe ich auch schon angefangen, kleine Stücke zu komponieren, und ich habe mir meinen ersten Synthesizer gekauft, und zwar mit eigenem Geld, das ich als Baby mit Werbung für Pampers verdient habe!»
Es ist ein schwieriges Territorium, das Oscar Bianchi sich ausgesucht hat. Zeitgenössische Musik hat es noch immer schwer, sich beim Publikum durchzusetzen. Warum eigentlich? «Musik ist eine Kunstrichtung, zu der Menschen schon sehr früh eine emotionale Bindung herstellen. Und die Leute erwarten von der Musik eine wohltuende Wirkung gegen die Mühsal, die sie im Alltag erfahren. Musik ist Befreiung, Linderung, Selbstfindung, das hat sich über Jahrhunderte herauskristallisiert. Das verstehe ich gut und habe überhaupt nichts dagegen.» Er bedauert allerdings, dass es der zeitgenössischen Musik noch nicht gelungen ist, im Publikum den Wunsch nach einer neuen Hör-Erfahrung zu wecken. «Man müsste dem Publikum sagen können: Wartet nicht darauf, dass die Melodie noch kommt, sucht die Harmonie gar nicht erst. Ihr seid hier, um eine ganz andere, neue Erfahrung zu machen! Gleichzeitig ist der Wunsch, sich auch auf traditionelle Musik einzulassen, völlig legitim.»
Kunst ohne Markt
In der modernen Kunst besteht dieses Problem nicht. Sie hat sich ganz selbstverständlich neben der alten Kunst etabliert. Warum, so frage ich Oscar Bianchi, ist das hier einfacher als in der Musik? «Weil es da einen Markt gibt», sagt Bianchi. «Geld spielt eine wesentliche Rolle. Und Geld fehlt in der Musik. In der bildenden Kunst gibt es die Möglichkeit, ein Kunstwerk zu kaufen, also Besitzer zu werden. Diese Möglichkeit gibt es in der Musik nicht, wenn man mal vom Erwerb einer Originalpartitur oder eines Manuskripts absieht. Eigentum zu erwerben öffnet schliesslich auch die Kräfte des Marktes. Natürlich haben klassische und zeitgenössische Musik auch ihre Märkte. Die sind aber nicht vergleichbar mit dem Kunstmarkt, denn in der Musik ist kein reales, profitables Eigentum möglich.
Die Showbusiness-Aspekte sind vermutlich die einzigen profitablen Optionen für Sponsoren. Dies hat aber nichts mit dem Werk selbst zu tun, sondern mit dem Event, der dahintersteht. Ausserdem ist es für viele Leute absolut ok, in eine Ausstellung zu gehen und die moderne Kunst nicht zu verstehen. In der Musik sind sie dann allerdings frustriert. Die Erfahrungen, die wir mit Klängen machen, ist so etwas Intimes …, Privates …, das oft eine stärkere Reaktion auslöst. Die Leute sind sofort genervt, wenn sie Klänge nicht verstehen und sagen: Ach, was soll das … Da müssten Veranstalter und Programmmacher daran arbeiten und immer wieder Kostproben präsentieren, kleine Stücke, um das Ohr zu schulen.»
Oscar Bianchi scheint zuversichtlich, zumal es unter den jüngeren Interpreten einige gebe, die mit grösster Begeisterung ihr Publikum zu neuen Klängen verführen. Patricia Kopatchinskaja zum Beispiel. Vielleicht müssten die beiden zusammenspannen? Wer weiss?