„Wir amüsieren uns zu Tode“ heisst der Titel eines Buches, das Neil Postman 1985 geschrieben hat. Der Kommunikationswissenschaftler der New York University bezog sich seinerzeit in erster Linie auf die Wirkung der Fernsehunterhaltung, die er insofern für verhängnisvoll hielt, als deren Form nur sehr begrenzt relevante Inhalte vermitteln kann. Er hatte seine These im Jahr zuvor an der Frankfurter Buchmesse auf einem Podium zu George Orwells „1984“ erstmals präsentiert.
Sensationslust oder Aufklärung?
Neil Postman fand in Frankfurt, Aldous Huxleys 1932 erschienener Roman „Schöne neue Welt“ würde die zeitgenössische Welt besser wiederspiegeln als George Orwells dystopische Fiktion eines totalitären Überwachungsstaates. Huxley beschrieb eine Gesellschaft, die nach Unterhaltung giert und deren Sucht nach Amüsement die Regierung mit der Droge Soma befriedigt.
Neil Postmans Kritik der Fernsehunterhaltung kann heute auch auf den Tourismus ausgedehnt werden. Nicht auf das Reisen an sich, gegen das, weil es angeblich bildet, wenig einzuwenden ist, sondern auf eine bestimmte Form des Reisens, wie sie sich im zunehmend nachgefragten Nischenprodukt des „dark tourism“ manifestiert. Die deutsche Website „urlaubsguru“ definiert dunkeln Tourismus als das Reisen an Orte, die von Leiden, Schmerz, Verbrechen, Naturkatastrophen oder Tod geprägt sind.
Der „urlaubsguru“ räumt ein, dass manche Gedenkstätten wie Auschwitz, Oradour sur Glane, Hiroshima, Verdun oder Pompeji unter Umständen zum Teil lehrreiche Hintergründe vermitteln. Gleichzeitig aber wachse auch die Sensationsgeilheit neugieriger Touristen: „Dark Tourism ist eine heikle Gratwanderung zwischen skrupelloser Sensationslust und geschichtlicher Aufklärung.“
Eine neue Attraktion des dunkeln Tourismus ist der „New York Times“ zufolge das „War Hostel Sarajevo“, eine Jugendherberge in der Nähe der einstigen Front, in deren Zimmern keine Betten mit Kissen und Decken stehen, sondern nur dünne Matratzen mit rauen Wolldecken den Boden bedecken. Als grösste Attraktion des Hostels, in dem via Lautsprecher rund um die Uhr das Krachen von Gewehr- und Geschützfeuer oder von Explosionen zu hören ist, gilt „der Bunker“, ein kahler, fensterloser Kerker, in den künstlicher Rauch gepumpt wird. Kosten pro Nacht: 20 Euro.
„Das ist cool“
Der 27-jährige Gastgeber der Herberge, der sich Zero One nennt, empfängt seine Gäste, Helm auf, in Kriegsmontur. Sein Ziel sei es nicht, sagt der frühere Stadtführer, nostalgische Erinnerungen an den Balkan-Konflikt zu wecken, sondern vor allem jungen Leuten näher zu bringen, was es heisst, im Krieg und unter dessen Entbehrungen zu leben. Das gelingt ihm, wie er einräumt, nur zum Teil: „Millenials kommen und sagen: ‚Das ist cool‘.“ Der Lärm, sagt Zero One, würde die jungen Gäste der Unterkunft nicht gross stören. Kein Wi-Fi aber würden sie nicht akzeptieren. Einheimische, welche Sarajevos 1’425-tägige Belagerung durch serbische Truppen erlebt hätten, zeigten an einem Aufenthalt im „War Hostel“ kein Interesse: „Sie haben (den Krieg) täglich erlebt und wollen vergessen.“
Das reale Elend in Jemen
Morgen eine mögliche Destination für „dark tourism“ wäre, zynisch bemerkt, auch der Jemen, sollte der Stellvertreterkrieg im Süden der arabischen Halbinsel in absehbarer Frist ein Ende finden. Dem Land droht heute die schlimmste Hungersnot der Welt seit 100 Jahren, falls die von Saudi-Arabien angeführte Koalition, von den USA und Grossbritannien unterstützt, ihre Luftangriffe nicht einstellt, die längst auch zivile Ziele wie Schulen, Fabriken, Spitäler oder Brücken treffen. Der Krieg soll bisher mindestens 10’000 Tote gefordert haben.
12 bis 13 Millionen Menschen könnten der Uno zufolge in den nächsten drei Monaten akut unter Hunger leiden, sollte keine ausreichende humanitäre Hilfe sie erreichen. „Viele von uns waren überzeugt, dass wir eine solche Hungersnot im 21. Jahrhundert nicht mehr erleben würden“, sagt die Amerikanerin Lise Grande, Koordinatorin der Uno-Hilfe im Lande: „Keine Frage, wir sollten uns schämen.“
Auch die wenigen Reporter, die noch aus dem Jemen berichten, reden von Gefühlen der Scham angesichts des Elends, das sie, selbst gut verpflegt und mit allem Nötigen versehen, täglich beobachten. „Der Jemen ist ein Land, in dem Leute sterben, weil sie sich kein Taxi leisten können“, war unlängst in einer Reportage zu lesen. Von Amüsement ist in den Depeschen keine Spur. Von Tod dagegen schon.