Bei den Siegern der Brandenburg-Wahl will keine ungetrübte Freude aufkommen. Denn in Tat und Wahrheit hat nicht die SPD die AfD in die Schranken gewiesen, sondern ein einziger Mann: Dietmar Woidke, der bisherige und wohl auch zukünftige Ministerpräsident.
Nun hat also auch Brandenburg, Deutschlands nordöstlichstes Bundesland, für die nächsten fünf Jahre einen neuen Landtag gewählt. Gewonnen hat, mit hauchdünnem Vorsprung vor der rechts-nationalistischen Alternative für Deutschland (AfD), erneut die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD). Wie immer bisher seit der deutschen Wiedervereinigung.
Ministerpräsident Woidke setzte allein auf seine Popularität und Beliebtheit, ging auf grösstmögliche Distanz zu Bundeskanzler Olaf Scholz und der Berliner Ampel und konnte auf diese Weise ein schon verloren geglaubtes Rennen sozusagen auf den letzten Metern noch siegreich gestalten. Und zwar nach der Devise: Entweder ihr wählt mich oder ihr kriegt die Braunen.
Gewiss, für sich genommen war es eigentlich nur ein regional bedeutsames Ereignis, das sich am 22. September in Brandenburg, dem historischen Kernland des einstigen Preussens, abspielte. Es ging darum, für die nächsten fünf Jahre einen neuen Landtag – ein Parlament – zu wählen. Tatsächlich jedoch spitzte sich die Auseinandersetzung praktisch auf die alleinige Frage zu: Gelingt es Kräften der politischen Mitte in Deutschland, dem Ansturm der immer grösseren Zulauf findenden Rechtsnationalisten von der AfD standzuhalten? Oder verliert in den fraglos schwierigen Zeiten der demokratische Gedanke mehr und mehr an Attraktivität?
Erodiert die Demokratie, weil Mitwirkung des Volkes (und damit natürlich jedes Einzelnen) eigenes Engagement und nicht selten auch Courage verlangt? Wobei mit «Kräften der politischen Mitte» bei der Landtagswahl in Brandenburg allein der mit weit über 50 Prozent fachlicher Zustimmung ausgestattete und persönlich beliebte Zweimeter-Mann Woidke und seine Mannschaft gemeint sind. Woidkes Mut zahlte sich aus. Noch vor ein paar Wochen lag die SPD in Umfragen etwa gleichauf mit der CDU, aber scheinbar hoffnungslos abgeschlagen hinter der AfD. Nach einer fulminanten Auf- und Überholjagd schafften es Woidke und Co. am Ende doch noch mit etwas mehr als einem Punkt Vorsprung vor der AfD.
Die eigentlichen Gewinner
Doch brachte dieser persönliche Gewinn auch wirklich einen Sieg? Und wenn ja, wer wäre der Gewinner? Die «traditionellen» Kräfte der Demokratie gewiss nicht. Denn die von Woidke an das brandenburgische Wahlvolk gerichtete Frage «Ich» (also ich persönlich und nicht etwa die Genossen in der Berliner Blase) «oder die» (also die AfD mit ihren inzwischen nicht selten ganz offen mit Nazi-Parolen auftretenden Repräsentanten) drängte die übrigen Parteien regelrecht an den Rand der öffentlichen Wahrnehmung und teilweise sogar darüber hinaus.
Nicht nur rutschten die Grünen und die (vor gar nicht so langer Zeit gerade in Brandenburg noch mächtigen) Linken unter die für einen Parlamentseinzug notwendige Fünfprozent-Hürde, die liberale Traditionspartei FDP versank sogar praktisch im politischen Niemandsland. Und auch die brandenburgische CDU, deren Spitzenkandidat Jan Redmann sich im Sommer gar Hoffnungen auf den Sessel des Regierungschefs gemacht hatte, wurde auf 12,1-Prozent-Wählerstimmen regelrecht eingedampft. Dafür allerdings strahlte – nach den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen vor zwei Wochen – auch über dem politischen Nachthimmel von Potsdam ein neuer Politstern auf mit dem Kürzel BSW, das Bündnis Sahra Wagenknecht.
Etwas mehr als ein halbes Jahr ist es erst her, dass die über lange Zeit bei den postkommunistischen Linken tätige Wagenknecht diese Bewegung in Gang gesetzt hat – ein Sammelsurium ehemaliger Parteifreunde und auch aus anderen Richtungen zugeströmter Politaktivisten. Und obwohl noch mit nur minimaler Mitgliederzahl ausgestattet, schiesst die neue Politkraft nach Thüringen und Sachsen nun auch in Brandenburg mit dem drittstärksten Ergebnis (13,5 Prozent) quasi durch die Decke. Und dies mit praktisch nur drei zentralen Aussagen: Einstellung der deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine und Drängen auf «diplomatische Lösungen», drastische Massnahmen zur Lösung der Migrationsproblematik, Aufstockung der sozialen Leistungen in der Gesellschaft. Alles drei programmatische Forderungen, die freilich allein beim Bund und damit ausserhalb der landespolitischen Zuständigkeiten liegen. Trotzdem solche Wahlerfolge …
Scholz bei der Uno-Vollversammlung
Dieses Phänomen beinhaltet nur eine von zahlreichen Fragen, über welche die Strategen jetzt in den Berliner Parteizentralen grübeln. Denn so erfreulich der Wahlsieg in Brandenburg für die Genossen auch gewesen sein mag, er hat die im Moment höchst miserable Lage der Sozialdemokratie auf Bundesebene allenfalls ein wenig entspannt, jedoch keineswegs grundlegend verbessert. Das gilt genauso für die rotgrüngelbe Ampel-Regierung in Berlin, zumal die freidemokratischen Koalitionspartner in Brandenburg genauso wie die grünen von den Wählern zerrupft wurden. Das wird nach aller Erfahrung bei den Beteiligten im Bund die Bereitschaft bestimmt nicht erhöhen, sich endlich vielleicht doch einmal zusammenzureissen und die anstehenden Probleme kraftvoll gemeinsam anzugehen.
Und Olaf Scholz, der Bundeskanzler? Dessen Zustimmungs- und Beliebtheitswerte können mittlerweile an den Fingern abgezählt werden. Während in den brandenburgischen Wahlkabinen insgesamt so viele Kreuze (mehr als 70 Prozent) gemacht wurden wie noch nie in der Landesgeschichte seit der deutschen Wiedervereinigung, weilt der Regierungschef in New York bei der Uno-Vollversammlung. Aber Dietmar Woidke hatte ja ohnehin bestimmt, dass er niemanden aus der Berliner Blase als Störenfried bei sich sehen möchte. Ein Befreiungsschlag für die Bundesregierung ist der Woidke-Erfolg in Brandenburg mithin ganz sicher nicht gewesen.
Ungewisse Perspektiven
Auch insgesamt war dieser «Tag von Potsdam» für die bundesdeutsche Traditionslandschaft alles andere als vergnüglich gelaufen. Die CDU, deren Vorsitzender Friedrich Merz sich kurz zuvor noch als künftiger Kanzlerkandidat hatte küren lassen, bekam in Potsdam einen kräftigen Nasenstüber. Gewiss, im Bund insgesamt sieht es ganz positiv aus für die Union. Aber Stimmungen, das wissen erfahrene Wahlkampf-Schlachtrösser, sind noch lange keine Stimmen in der Wahlkabine. Und bis zur Bundestagswahl dauert es noch fast auf den Tag genau ein Jahr. Dabei kann noch viel Wasser den Rhein, die Elbe und die Oder hinabfliessen. Will sagen: Es kann noch viel Unvorhersehbares national wie auch jenseits der Grenzen geschehen.
Kann die Bundesregierung – mit oder ohne die Union – die Krise um das Thema unkontrollierte und illegale Einwanderung wenigstens entspannen? Wie verläuft der Krieg in der Ukraine? Und wird die westliche Unterstützung für das überfallene Land bestehen bleiben? Wen werden im November die Amerikaner ins Weisse Haus wählen, und welche Auswirkungen werden davon in die Welt strahlen? Zum Beispiel in den Nahen Osten?
Natürlich ist davon auch die deutsche Öffentlichkeit nicht unberührt. Und von diesen internationalen Entwicklungen hängt mit Sicherheit auch ab, ob die Rechtsaussen von der AfD weiterhin Rückhalt in der Gesellschaft finden. Zum Beispiel bei den Jungen, den 16- bis 35-Jährigen, für die von der AfD eine nur schwer zu erklärende Faszination auszugehen scheint. Vielleicht, weil für sie Demokratie und Freiheit selbstverständlich erscheinen, so dass man sich für deren Erhalt nicht anzustrengen braucht.
Aber auch für das politische Startup BSW, für das bislang eigentlich nur ein Name steht – Sahra Wagenknecht – und das im Moment verzweifelt nach Leuten Ausschau hält, mit denen man wenigstens optisch die Parlaments- und Kabinettsstühle besetzen könnte, wenn aufgrund fehlender Alternativen die BSW-Regierungsbeteiligungen demnächst in Thüringen und Sachsen sowie nun auch in Brandenburg unausweichlich erscheinen.