Viele Fragen sind offen: Warum wurde die Maschine der ukrainischen Fluggesellschaft von den iranischen Revolutionsgarden abgeschossen? In der Nacht der Katastrophe befanden sich die Garden nach eigener Angabe „im Krieg“. Und: Warum hat Iran in dieser Lage den Luftraum für zivile Flugzeuge nicht gesperrt? Wer ist eigentlich zuständig für diesen Luftraum?
Am vergangenen Mittwoch, um 06:13 Uhr Ortszeit, hob die vier Jahre alte Boeing 737-800 der ukrainischen Fluggesellschaft vom Teheraner Flughafen ab. 176 Menschen waren an Bord, die Mehrheit von ihnen waren Auslandsiraner, die über Kiew nach Kanada, Schweden, Deutschland, in die Schweiz und anderen europäischen Ländern weiterreisen wollten. „Die Abflugzeit war Kriegszeit“, sagte Hossein Salami, Oberster Kommandant der Revolutionsgarden, am vergangenen Sonntag im iranischen Parlament.
Fakten gegen Vertuschung
Wegen des drohenden militärischen Konflikts erhält der Pilot die Freigabe zum Steigflug auf 26’000 Fuss (7’925 Meter). Fünf Minuten nach dem Abheben erreicht die Maschine eine Höhe von knapp 8’000 Fuss (2’440 Meter), als sie nach einer Rechtskehre an Höhe verliert und vom Radar verschwindet. Einen Notruf der Besatzung gibt es nicht.
Was geschehen ist, wissen wir inzwischen. Die Lügen der Revolutionsgarden und der gesamten Staatsspitze hielten sich nur drei Tage. Schliesslich siegten die Fakten, die Vertuschungen waren vergeblich.
Zwei Stunden vor dem Abflug der ukrainischen Maschine hatten die Revolutionsgarden von zwei ihrer Stützpunkte im Westen des Landes, fast 1000 Kilometer entfernt von Teheran, 16 ballistische Raketen gegen zwei US-Militärbasen im Irak abgefeuert. Es sollte eine Racheaktion für den von den USA ermordeten General Kassem Soleimani sein.
Symbolischer Gegenschlag
Dies war aber eine angekündigte, eine genau kalkuliert Rache. Kein Amerikaner sollte dabei getötet oder verletzt werden, selbst die materiellen Schäden sollten sehr gering sein. Denn US-Präsident Trump hatte vorher gedroht, sollte bei dem iranischen Gegenschlag ein Amerikaner getötet oder amerikanische Einrichtungen beschädigt werden, würde die US-Army massiv zurückschlagen.
Man brauchte also eine symbolische Aktion. Die vielbeschworene Rache, die während der Trauerzeremonie für Kassem Soleimani drei Tage lang im ganze Land gefordert wurde, verlangte Genugtuung.
„Wir wollten niemanden töten“, wird später der Oberste Gardist Salami vor dem Parlament sagen. Die Attacke lief schliesslich genauso symbolisch ab, wie sie sich die Garden ausgedacht hatten. Kein menschliches Opfer und kein grosser Sachschaden. Der irakische Ministerpräsident Abdolmahdi war zwei Stunden vor dem Angriff informiert worden. Man kann auch annehmen, dass die USA ebenfalls wussten, was bevorstand.
Wenige Stunden nach dem iranischen Raketenbeschuss wird Donald twittern: Alles ist ok.
https://twitter.com/realdonaldtrump/status/1214739853025394693
All is well! Missiles launched from Iran at two military bases located in Iraq. Assessment of casualties & damages taking place now. So far, so good! We have the most powerful and well equipped military anywhere in the world, by far! I will be making a statement tomorrow morning.
Schutzschild gegen befürchteten Angriff?
Während dieses „Kriegsspiels“ blieb der iranische Luftraum für zivile Luftfahrt offen. Warum?
Fürchtete man doch einen Angriff der USA? Dienten die Passagiere der ukrainischen Maschine nur als Schutzschilde? Wurde der Luftraum bewusst offengehalten, um die USA von einem Vergeltungsschlag abzuhalten?
Vorsichtig fragen sich manche Journalisten im Iran, warum in dieser Nacht der Luftraum offen blieb .
„Wir sind nicht für die Schliessung des Luftraums zuständig“, sagte am Montag Syawosh Amir Mokri. Mokri ist immerhin der Chef des Kontrollzentrums für zivile Luftfahrt.
http://news.mrud.ir/news/77161
Es sind also die Revolutionsgarden, die über den iranischen Luftraum entscheiden. Aber warum haben sie sich entschieden, der Luftraum solle offen bleiben, obwohl sie in dieser Nacht „Krieg führten“, wie Hossein Salami, der Chef der Garden, am Sonntag sagte?
Boeing mit Cruise-Missile verwechselt?
Man habe das ukrainische Passagierflugzeug für ein Cruise-Missile gehalten sagt Salami weiter.
Kann ein Offizier der Luftabwehr auf seinem Radar eine Boeing 737-800, die sich auf einer vorgeschriebenen Fluglinie befindet, mit einem Cruise-Missile verwechseln?
Damit können und werden sich die Militärfachleute beschäftigen.
Zäsur
Wie auch immer. Der Luftverkehr zwischen Europa, Indien und Australien befindet sich inzwischen vor einer neuen Herausforderung. Fluggesellschaften wie die Lufthansa und die französisch-niederländische Air France-KLM umfliegen seit Mittwochmorgen sicherheitshalber den iranischen Luftraum. Andere Fluggesellschaften folgen.
Der Abschuss der ukrainischen Maschine ist eine Zäsur in der Geschichte der Islamischen Republik. Die Mehrheit der Iraner hatte längst kein Vertrauen mehr in die gesamte Spitze der Islamischen Republik. Auch die überzeugten Anhänger des Regimes haben es jetzt schwer, die Lügen der iranischen Führung zu verteidigen.