Die Krise in Tunesien hat einen doppelten Aspekt. Die Strasse rebelliert, aufgebracht durch den politischen Mord an einem der mutigsten und bekanntesten Sprecher der Säkularisten, dem Advokaten und Menschenrechtler Choukri Blaid.
Die Strasse begehrt aber auch auf, weil sie am Ende ihrer Geduld und Leidensfähigkeit steht. Diese wird durch Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise auf harte Proben gestellt. Dazu kommt, dass fast alle Tunesier bitter enttäuscht sind. All ihre Hoffnungen, die sie nach dem Ende des Polizei-Regimes von Ben Ali hatten, sind bis jetzt keineswegs in Erfüllung gegangen.
Die zweite Wurzel der Krise ist jene der neugeschaffenen politischen Institutionen, die sich erst in der Aufbauphase befinden und die auf die Entstehung eines demokratischen Systems abzielen. Schon drei Monate, bevor Belaid erschossen wurde, befand sich die Regierungskoalition in der Krise. Und seit 15 Monaten wird in der Verfassungsversammlung, die auch als Parlament dient, um eine neue Verfassung gerungen. Bisher vergeblich, denn für Beschlüsse dieser Versammlung wäre eine Zwei-Drittel-Mehrheit nötig. Eine solche kann kaum je erreicht werden.
Bruch der bisherigen Koalition
Die gegenwärtige Regierungskrise wurde von der kleinen, säkularen Koalitionspartei „Kongress für die Republik“ ausgelöst. Ihr Oberhaupt Moncef Marzouki amtet als tunesischer Staatschef. Diese Partei hatte gedroht, sie würde die Koalition verlassen, wenn nicht gewisse Minister, die der islamischen Nahda-Partei angehören, aus der Regierung ausschieden.
Doch Nahda, die Mehrheitspartei der Koalition, weigerte sich, diesem Druck nachzugeben.
Unmittelbar nach dem Mordanschlag und angesichts der ausbrechenden Strassenunruhen, erklärte der Regierungschef, Hamadi Jebali, der zu Nahda gehört, die Versuche, innerhalb der Koalition zu einem Ausgleich zu gelangen, seien gescheitert. Jebali kündigte an, er werde jetzt eine neutrale Technokraten-Regierung bilden, die Tunesien in die Parlamentswahlen führen soll. Diese Wahlen sollen im Frühjahr oder im Sommer stattfinden.
Ob der Ministerpräsident allerdings von sich aus eine neue Regierung ernennen kann, ist zweifelhaft. Tunesien hat noch keine Verfassung. Doch nach dem bisherigen Vorgehen war es die parlamentarische Mehrheit, das heisst die Mehrheit in der Verfassungsversammlung, welche den Regierungschef ernannte, und dieser bestimmte die Regierungsmitglieder. Die Erklärung Jebalis stiess daher sowohl auf Zustimmung wie auch auf Ablehnung von Seiten der Nahda-Parlamentarier und Parteiführer.
Passt Demokratie zum Islam?
Dass die tunesische Mehrheitspartei selbst einer Zerreissprobe ausgesetzt ist, konnten Beobachter seit geraumer Zeit erraten. Doch durch diese offenen Widersprüche zwischen Ministerpräsident Jebali und Teilen der Parteiführung sind diese inneren Gegensätze unübersehbar geworden.
Die Nahda-Partei steht unter der Führung Rachid Ghannouchis, eines islamischen Denkers und Theologen. Sein theologisches Lebenswerk kreist um die Frage: Steht der Islam mit der Demokratie in Einklang, oder gibt es unüberbrückbare Widersprüche zwischen der Religion und einer demokratischen politischen Ordnung?
Ghannouchi sucht in seinen Schriften nachzuweisen, dass es derartige Widersprüche nicht gibt. Doch schon der Umstand, dass es derartiger Schriften bedarf, macht deutlich, dass nicht alle Muslime an die Vereinbarkeit zwischen ihrer Religion und einer demokratischen Ordnung glauben.
Das Kalifat als einzige Ordnung?
Es gibt starke islamische Strömungen, die von der Unvereinbarkeit beider Ordnungen sprechen. Ihre Vorkämpfer vertreten, falls man sie über ihre konkreten politischen Grundvorstellungen befragt, meist die traditionelle Idee. Diese besagt, die islamische Gesellschaft (die sie als eine einzige grosse Gemeinschaft sehen wollen) benötige eigentlich wieder einen Khalifa, zu Deutsch Kalifen. Das heisst: einen legitimen Nachfolger des Propheten, einen "Beherrscher der Gläubigen".
Diese traditionelle Richtung des Islams erklärt auch: "Im Islam bestehen die Gesetze nicht um der Menschen willen, sondern es sind die Gesetze Gottes, die um Seinetwillen zu befolgen sind!". Als die Gesamtheit dieser Gottesgesetze sehen sie die Schari'a an. Diese traditionellen Vorstellungen besitzen den Vorteil der Einfachheit und Übersichtlichkeit, solange man sie abstrakt in sich selbst betrachtet und nicht nach ihrer Anwendbarkeit in der konkret gegebenen heutigen Umwelt fragt. Erst wenn man dies tut, wird deutlich, dass die Anwendung der als göttlich geltenden Regeln auf die Gegebenheiten der heutigen Welt (und auch schon früherer Zeiten) ausserordentlich schwierig und ziemlich ungewiss ist.
Die Schari’a bleibt in der Präambel der Verfassung unerwähnt
Als abstrakte Forderung, "führt die Scharia ein!", ohne zu fragen, wie genau dies geschehen soll, ist die Vorstellung der Verwirklichung einer göttlichen Ordnung für alle Gläubigen attraktiv. Dies bewirkt, dass viele Anhänger der islamischen Nahda-Partei mindestens emotional mit den Forderungen der Salafisten sympathisieren. Ihr einziges Ziel ist es, diese traditionellen Vorstellungen vom islamischen Gottesstaat durchzusetzen.
Anders gesagt, Ghannouchi gehört dem „linken“ Flügel seiner Partei an, jenem Flügel, der den Säkularisten am nächsten steht.
Als die Präambel der Verfassung diskutiert wurde, kam es zu einer harten Auseinandersetzung innerhalb der Nahda-Partei. Nur nach zähen inneren Diskussionen konnte Ghannouchi seine Meinung durchsetzen, dass die Schari‘a in dieser Präambel nicht erwähnt werden solle.
"Rechts" von der Nahda-Partei stehen die Gruppen der tunesischen Salafisten. Diese beeinflussen den rechten Flügel der Regierungspartei und auch ihre Mitte mit ihren Thesen vom Schari’a- Staat, die dem heutigen Selbstverständnis vieler Muslime entsprechen.
Um Nahda zusammenzuhalten, muss ihr geistlicher Führer, Ghannouchi, dafür sorgen, dass die Salafisten mit ihrem fundamentalistischen Selbstverständnis nicht allzu viel Einfluss über seine in der Tradition verhafteten Parteimitglieder erlangen. Er hat dies im vergangenen Jahr mehrmals getan, indem er Verständnis auch für jene Anliegen der Parteimitglieder zeigte, die ihren Islam als möglichst eng gefasste, auf sicheren Grundlagen ruhende Identität leben möchten.
Die Ligen zur Bewahrung der Revolution
Muslime dieser Ausrichtung haben aktive Milizen gebildet. Viele ihrer Aktivisten stammen offenbar aus der Nahda-Partei. Doch möglicherweise haben sich ihnen salafistische Gruppen angeschlossen. Die Milizen nennen sich "Liga zur Verteidigung der Errungenschaften der Revolution". Mehrmals sind sie offen gegen säkulare Gegner aufgetreten. Die Aktionen und Manifestationen der säkularen Gruppen empfinden die Milizen als Provokation gegen die Religion.
Wer genau zu diesen inzwischen über das ganze Land ausgebreiteten Ligen gehört und wie sie sich finanzieren, ist ungewiss. Es gibt viele Beobachter, die sie als ein "Instrument von Nahda" sehen wollen; andere betonen Salafisten seien an ihren Aktionen wesentlich beteiligt. Man findet auch Beobachter, die der Meinung sind, ehemalige Angehörige des Ben Ali-Regimes hätten die Ligen infiltriert, um über sie wieder eine politischen Rolle zu erlangen.
Die Aktivitäten der Liga richteten sich zunächst gegen Kunstausstellungen. Die Organisatoren solcher Ausstellungen wollten tatsächlich – im Namen der Meinungsfreiheit – die herrschenden pro-islamischen Kräfte provozieren. Die Ausstellungsmacher formulierten es so: Mit den Mitteln der Kunst wollten sie die Grenzen der Meinungsfreiheit erproben.
Aktivisten der Liga zerstörten denn auch eine dieser Ausstellung. Einige der Aktivisten wurden darauf wegen Friedensbruch bestraft. Doch die Regierung schritt auch gegen die ausstellenden Künstler ein. Sie wurden beschuldigt, den Islam zu beleidigen. Damals äusserte Ghannouchi persönlich sein Verständnis für die Empörung der Unruhestifter.
Eskalation der Gewalt
Doch mit der Zeit wurden die Aktionen der Liga gewaltsamer und waren immer weniger zu rechtfertigen. Ausserdem waren ihre Aktivisten nicht die einzigen Islam-Kämpfer. Es gab auch rein salafistische Gruppen, die gegen vermeintliche "Feinde des Islams" vorgehen wollten. Einige von ihnen, die allzu gewalttätig wurden, wurden ins Gefängnis gesteckt. Zwei von ihnen traten in einen Hungerstreik und starben.
Doch die Grenze zwischen den Leuten der Liga, die der Regierungspartei nahe standen, und den Aktivisten salafistischer Richtung, die eigentlich zu den Opponenten der Regierungspartei auf deren rechtem Flügel zählen, verwischten sich zusehends.
Das Verhalten Ghannouchis, der um den Zusammenhalt seiner Partei bemüht war, trug ihm von Seiten seiner säkularistischen Gegner den Vorwurf der Doppelzüngigkeit ein. Sie werfen ihm vor, er zeige sich gegenüber dem Ausland als liberaler Muslim, aber in Tunesien handle er als "Fundamentalist".
“Klima systematischer Gewaltanwendung“
Der Regierung Jebali warf die säkularistische Opposition vor, sie ignoriere Gewaltdrohungen und Gewaltaktionen der Liga. Der ermordete Choukri Belaid hatte am Tag vor seiner Ermordung öffentlich von einem "Klima systematischer Gewaltanwendung" gesprochen, das um sich greife.
Auch zwischen Arbeitern der mächtigen und einflussreichen Gewerkschaftsföderation UGTT und Aktivisten der Liga war es zu Zusammenstössen gekommen. Ein Vertreter des bürgerlichen säkularen Zusammenschlusses „Nida Tunis“ war im Oktober letzten Jahres während einer Demonstration im Süden des Landes angeblich von Liga-Leuten erschlagen worden. „Nida Tunis“ war von Qaid Essebsi, einen früheren Ministerpräsidenten und einstigen Aussenminister Bourguibas gegründet worden.
Verantwortlich für die Spannungen innerhalb der Regierungspartei ist ohne Zweifel der „rechte“ Parteiflügel. Seine Aktivitäten gleichen jenen der Salafisten immer mehr.
Der Traum von einem islamischen Staat
Nicht nur Ghannouchi, der kein politisches Amt übernommen hat, sondern auch die in der politischen Praxis stehenden Nahda-Führer, wie Jebali, sehen die Notwendigkeit einer versöhnlichen Politik, wenn Tunesien vorankommen soll. Doch ein Teil des Fussvolkes der Nahda-Partei träumt nach wie vor von einem "islamischen" Staat und gelangt dadurch unter den Einfluss der Salafisten.
Auf der Seite der Säkularisten ist der Plan Jebalis, eine Technokratenregierung einzusetzen, auf Zustimmung gestossen. Qaid Essebsi, der heute als Führer eines bedeutenden Blocks von bürgerlich-säkularen Politikern auftritt, hat erklärt, der Schritt des Ministerpräsidenten komme zwar spät, aber es sei ein wichtiger Schritt.
Dennoch droht er, seine 90 Abgeordneten aus der Verfassungsversammlung zurückzuziehen. Sie stehen dort 120 Vertretern der Nahda und ihrer Koalitionspartner gegenüber. Dennoch wollen die beiden grössten Parteien, an-Nahda und jene Essibsis, „Nida Tunis“, offenbar zuerst versuchen, ob sie nicht eine neue Koalition auf die Beine bringen. Dass dies gelingen könnte, ist unwahrscheinlich angesichts der grossen Differenzen, ja erbitterten Feindschaft, die zwischen den beiden Hauptlagern, jenem der Islamisten und dem der Säkularisten, besteht.