„Ein Sozi mit einem Nazi als Vater“ ist ein Eigenzitat von Gabriel. Es steht beispielhaft für die Wandlung eines Landes von nationaler Besessenheit mit schrecklichem Erbe zu rechtsstaatlichem Europabewusstsein mit einer klaren Aufgabe. In einem Europa, wo Deutschland nicht als Hegemon, aber auch nicht als politischer Abstinenzler seiner Rolle als Zentralmacht Europas gerecht werden muss.
Deutsche Sonderwege
Die neuen deutschen Sonderwege, welche der EU zeigen, wie sich unser Kontinent angesichts seines geschichtlichen Erbes – den Totalitarismen der 1930er Jahre und der deutschen Ursünde Holocaust, dem Kommunismus im Osten, dem Kolonialismus, dem Manchesterliberalismus und der industriellen Ausbeutung der Natur – im 21.Jahrhundert darstellen sollte. Neben der Energiewende und der heute positiven Sicht Deutschlands auf globalen Freihandel geht Gabriel auf die Flüchtlingspolitik ein. Insbesondere auf die Grenzöffnung 2015 im Rahmen der von Angela Merkels „Wir schaffen das“ symbolisierten Willkommenskultur. Als Vizekanzler war Gabriel damals direkt involviert und macht klar, dass eine bis an die Zähne bewaffnete Grenzpolizei in Italien, Österreich und speziell Deutschland zur Abwehr erschöpfter Frauen und Kinder keine auch nur diskussionswürdige Alternative darstellte.
Speziell berührt dabei, dass Gabriel seine Kanzlerin mit einem Ausspruch zitiert, der die grosse Koalition nicht nur als Zweckbündnis, sondern auch Wertegemeinschaft zeigt: „Aber eines versprechen Sie mir, Herr Gabriel, wir beide bauen keine Zäune.“ Eine klare Botschaft nicht nur an nationalistische Potentaten, sondern auch an die vielen Siebengscheiten in allen unseren Ländern, welche heute die Bundeskanzlerin für die Migrationskrise verantwortlich machen.
Trumpismus, Russland und China
Wunderbare Einführung von Gabriel zur Einführung des langen Kapitels über die transatlantischen Beziehungen: „Die Begleitung von Trump an den G20-Gipfel in Hamburg im Juli 2017 durch Ivanka und Jared Kushner erinnerte mich an frühere Monarchien, wo es üblich war, die gesamte Verwandtschaft zu Regierungskonsultationen mitzubringen.“ In der Folge lässt Gabriel kaum ein gutes Haar am amerikanischen Präsidenten. Er hat recht, sagt aber kaum etwas, was nicht anderenorts bereits erschöpfend dargestellt worden ist. Auch seine Folgerung, dass Europa und die EU angesichts von Trump einerseits nicht alle Brücken über den Nordatlantik abbrechen soll, andererseits aber doch mehr Eigenständigkeit aufbauen muss, ist nicht neu. Gerechterweise sei hinzugefügt, dass Donalds Bocksprünge im und ausserhalb des Weissen Hauses auch gar keinen anderen Schluss zulassen.
Weniger überzeugt Gabriel im Kapitel über Russland. Wenn er sich grundsätzlich „Russland positiv voreingenommen nähert“, geht das für einen Privatmann, nicht aber einen ehemaligen Aussenminister. Putin kommt zu gut weg, „jedenfalls ein Staatschef, der trotz aller gegenseitiger Enttäuschungen unserem Land und Europa zugewandt“ sei. Dies zu einem geschworenen Gegner aller westlichen Werte, dem jedes Mittel recht ist, diese zu untergraben. Dies zum „capo dei capi“ Russlands, der laut verlässlichen, in der Financial Times veröffentlichten Berichten über die estnische Zweigstelle der Danske Bank als Empfänger-, und der Deutschen Bank als Korrespondenzbank, rund 200 Mia. (richtig: Milliarden) Euro Ölgelder gewaschen und den Seinen zugehalten hat.
Die Passagen über China sind ausgewogener, aber nicht originell; zur chinesischen Übernahmestrategie westlicher Unternehmen und deren technologischer Ausblutung fällt ihm lediglich der Allgemeinplatz ein, der chinesischen Übernahmestrategie seien „technische und sicherheitspolitische Grenzen zu setzen“.
Europa in der Welt
Europa ist Gabriels Bereich, da macht er auch konkrete Vorschläge. Die europäische Verteidigung stärken mittels einer französisch-deutschen sicherheitspolitischen Konföderation. Mit mehr Einsatz im Mittlerer Osten der „zivilen Grossmacht Europa“ die Migrationskrise an den Wurzeln anpacken. Was allerdings in direktem Gegensatz zu seinen Rezepten des Umgangs mit Putin steht, hat dieser doch mit dem brutalen Eingreifen das syrische Elend multipliziert.
In realistischer Perspektive zieht Gabriel die Bilanz, dass „muddling through“ weiterhin die beste EU-Strategie sei, allerdings vorangetrieben von der Achse Paris-Berlin. Angesichts französischer Aktualität interessant, aber folgerichtig, dass er sich als Macron-Fan zu erkennen gibt, welcher momentan allein die EU vorantreibt auf ihrem Weg zur globalen Vertretung eines prosperierenden, einflussreichen und auch mächtigen Europas.
Deutschlands Seele
Das letzte und längste Kapitel überschreibt Gabriel mit dem „Kampf um Deutschlands Seele“. Das klingt pathetisch, aber erklärt warum die Grosse Koalition trotz Rückschlägen auch aus sozialdemokratischer Warte fortgesetzt wird. Für Deutschland und für Europa ist dies weiterhin die beste Lösung, verglichen mit einer, bei der nass-forsche Liberale, geschweige denn rechtsextreme Dunkelgestalten oder Linksnationalisten mitregieren würden.