Die Alpen haben für die moderne Schweiz eine mythische Bedeutung. Im Mittelalter als lebensfeindlicher, von bösen Geistern beherrschter Ort gesehen, wurde die Gebirgsregion in der Neuzeit zum idealisierten Arkadien. Für die Gründungsmythen der Eidgenossenschaft lieferten die Alpen das Bühnenbild, und dies zu einer Zeit, da die Transformation von der Agrar- zur Industriegesellschaft in vollem Gange war. Im Zweiten Weltkrieg dann war der Gebirgswelt-Mythos so tief verwurzelt, dass die Vorstellung einer unbeugsam im Alpenréduit verschanzten Armee trotz der damit verbundenen militärischen Preisgabe von Bevölkerung und Infrastruktur anscheinend fraglos akzeptiert wurde.
Heute ist die Identifikation der Schweiz mit den Alpen etwas abgekühlt. Als touristisches Asset und Freizeitpark sind die Berge zwar noch immer wichtig, und im Verhandlungspoker mit der EU verweisen Bundesräte gern auf den Alpentransit als europäische Lebensader. Doch im politischen Alltag erscheinen die Alpen vermehrt als Rand- und Problemregion. Selbst die Elektrizitätsgewinnung aus Wasserkraft gilt, seitdem die Energiepreise abgestürzt sind, nicht mehr als essentiell. Bereits haben Think-Tanks die gezielte Entvölkerung von Bergregionen zur Diskussion gestellt, wenn diese ökonomisch und ökologisch nicht mehr zu halten seien.
Aufgeklärter Blick auf die Alpen
Bild und Bedeutung der Alpen haben sich in der Geschichte grundlegend verändert – und sind auch weiterhin nicht festgelegt. Instruktiv ist diesbezüglich der historische Blick auf die kulturelle Transformation im frühen 18. Jahrhundert. Der Berner Arzt, Naturforscher und Dichter Albrecht von Haller, Aufklärer von europäischem Rang, hat mit seinem 1729 veröffentlichten Gedicht „Die Alpen“ der herkömmlichen Vorstellung einer unzugänglichen Wildnis aus Fels und Eis und eines kargen Lebens kaum zivilisierter Bewohner eine völlig neue Sicht entgegengestellt. Er besingt die Alpen als herrliche Natur, heroische Landschaft und Hort unverdorbenen Lebens. Die in barocker Diktion gehaltene Eloge war äusserst populär und von enormer Wirkung.
Gewissermassen als visuelle Beglaubigung von Hallers Versen wurde das Werk Caspar Wolfs (1735–1783), des Pioniers der Hochgebirgsmalerei, begeistert aufgenommen. Wolfs brillante, gleichermassen realistische und heroische Bilder definieren bis heute die Wahrnehmung der Alpen.
Bis vor rund dreissig Jahren war dies die unbestrittene historische Auffassung: Albrecht von Haller, Caspar Wolf, ferner die Forscher Johannes Gessner und Johann Jakob Scheuchzer sowie der Naturphilosoph Jean-Jaques Rousseau haben als Urheber jener grundlegend neuen Sicht zu gelten, die sich den Alpen erstmals ohne Furcht vor Dämonen, dafür mit freiem Geist genähert hat.
Holländische Vorläufer
Doch das geläufige Narrativ von der Revolutionierung des Verhältnisses zur alpinen Welt muss zumindest ergänzt werden. Bereits 1989 wies Paul Wegmann, Leiter der Jakob Briner Stiftung, auf eine fast hundert Jahre vor Albrecht von Haller geschehene „Entdeckung der Alpen“ hin. Die verblüffende Pointe dabei: Es waren holländische Maler, die als erste die Alpen zum Bildthema machten. Die Ausstellung in Winterthur erzählt die Geschichte dieser Entdeckung deshalb unter dem Motto „Dutch Mountains“.
Ums Jahr 1600 erfuhr die niederländische Malerei im Gefolge der Abspaltung der protestantischen nördlichen Provinzen von spanisch Habsburg einen Kulturwandel. Er äusserte sich in der Zuwendung zu alltäglichen Motiven und der Entwicklung eines im Bürgertum verankerten Kunstmarkts. Neben Genrebildern und Porträts waren Landschaftsmotive beliebt. Im damals aufkommenden Panoramabild drückte sich das Freiheitsgefühl einer prosperierenden Gesellschaft aus. Wissenschaft und Technik versetzten den Menschen gegenüber der Natur in die Position des Gestalters und Machers, in den Niederlanden sinnenfällig mit der Landgewinnung durch Polder.
Als Handelsnation stand das Land in europa- und weltweitem Austausch. Geographisches Wissen wurde zur geschäftsrelevanten Ressource. Es entstanden die grossen Kartenwerke wie der „Atlas maior“ von Joan Blaeu mit 600 detaillierten und erstaunlich präzisen Kartenblättern. Geographen und Händler wünschten aber zusätzlich zu den Karten auch Bildinformationen über ferne Gegenden.
Als Vorläufer der bildlichen Erkundung von Gebirgsregionen gilt Pieter Bruegel der Ältere (1526/1530–1569). Er war mit seinen nach Skizzen gefertigten typisierten Stichen von Berglandschaften erfolgreich. Diesem künstlerischen und geschäftlichen Vorbild folgte der interessante Roelant Savery (1576–1639). Als Hofmaler des Kaisers Rudolf II. in Prag war er von 1606 bis 1608 gewissermassen als „embedded painter“ mit kaiserlichen Truppen unterwegs in Tirol, um Landschaften vor Ort zu zeichnen. Der Zweck dieser Expedition war offensichtlich von Herrschaftsinteressen diktiert: Die Auftraggeber wollten Bescheid wissen über dieses abgelegene Gebiet. Savery stiess dabei wie kein Künstler vor ihm in die alpine Welt vor. Die Skizzen dienten ihm hernach als Vorlagen für frei nach der Natur komponierte Dekorationsmalereien und Stiche.
Maler als Informationsbeschaffer
Nach 1648, dem Ende des Dreissigjährigen Kriegs, kam der europäische Fernhandel neu in Schwung, und die Alpenübergänge erlangten für die Wirtschaft strategische Bedeutung. Holländische Handelshäuser wandten sich neben dem Seeverkehr nun auch den europäischen Landrouten zu. Um Transporte von und nach Italien sicher abwickeln zu können, benötigten sie genaue Aufschlüsse über die Beschaffenheit der Saumwege über die Alpen.
Der Amsterdamer Jurist Laurens van der Hem (1621–1678) legte auf der Grundlage des „Atlas maior“ eine erweiterte Sammlung von Karten und Landschaftsdarstellungen an, um die benötigten Informationen bereitzustellen. Vermutlich war er es, der den Maler Jan Hackaert (1628–1685/1690) als Kundschafter ins Schweizer Alpengebiet entsandte. Hauptauftrag war offenbar die bildliche Dokumentierung des Wegs durch die Viamala, die gefürchtete Schlucht auf der Nordseite des Splügen-Passübergangs.
Produktive Malerfreundschaft
Hackaert selbst verband diesen kommerziellen Auftrag durchaus mit einem künstlerischen Interesse. In Zürich lernte er den Maler Conrad Meyer (1616–1689) kennen, mit dem er sich befreundete. Gemeinsam machten die beiden sich daran, erst die Landschaft vor den Toren Zürichs und des Zürichsees, später in Glarner Gebirgsgegenden im Freien zu zeichnen und aquarellieren. Anders als ihren Vorgängern ging es ihnen um die exakte Wiedergabe realer Ansichten. Sich gegenseitig inspirierend und fördernd, wurden sie nicht nur zu Pionieren der naturgetreuen thematischen Landschaftsdarstellung, sondern auch gleich noch der Pleinair-Malerei.
Zeugnisse dieses gemeinsamen Herantastens an die zeichnerisch-malerische Erfassung von Hügel- und Gebirgsmotiven gibt es in der Winterthurer Ausstellung mehrere. Eindrucksvoll sind die fast einen Meter breite Zeichnung und ein ergänzendes kleineres Blatt Conrad Meyers aus dem Löntschtal bei Glarus. Man kann geradezu mitverfolgen, wie er hier die malerische Sichtweise und das handwerkliche Verfahren entwickelt, um einem zuvor in der Kunst so nicht vorkommenden Gegenstand Form geben zu können.
Für den an flache Landschaften gewöhnten Holländer Hackaert muss nur schon das Fehlen eines tiefen Horizonts, das visuelle Hineingehen in ein die Bildbegrenzungen rundum überschreitendes Motiv eine ästhetische Herausforderung gewesen sein. Mit Conrad Meyer als künstlerischem Mentor und Sparringpartner erlernte er den neuen Blick auf eine gebirgige Umwelt.
Die solcherart geschulte Sichtweise war Voraussetzung zur Erfüllung seines Auftrags. Hackaert zog alleine weiter zur Viamala. Ganze vier Wochen hielt er sich im nahe des Schluchtdurchgangs gelegenen Schams auf. Sieben aufwendig ausgeführte Zeichnungen von neuralgischen Stellen des Viamala-Saumpfads brachte er nach Amsterdam zurück zu seinem Auftraggeber, der sie in sein geographisches Dokumentationswerk des erweiterten „Atlas maior“ einfügte. Welchen kommerziellen Nutzen Hackaerts Blätter tatsächlich gebracht haben, ist nicht bekannt.
Meilensteine der Landschaftsmalerei
Der künstlerische Ertrag von Hackaerts Schweiz-Expedition hingegen lässt sich durchaus ermessen. Hackaerts Rolle für die Entwicklung der europäischen Landschaftsmalerei ist eminent. Mit seinem grossformatigen um 1660 gemalten Bild „Der Zürichsee“ (Bild ganz oben) hat der Holländer einen Meilenstein gesetzt. Sein Zürichsee-Bild ist das erste der Kunstgeschichte, das ein rein landschaftliches Motiv in naturgetreuer Wiedergabe in Öl gemalt vorführt.
Die Winterthurer Ausstellung führt das Thema der Alpendarstellung weiter bis ins 19. Jahrhundert zu Alexandre Calame (1810–1864). Dessen seinerzeit enorm erfolgreiche Bilder bleiben beim Prinzip der realistischen Darstellung, steigern aber gleichzeitig die Alpenverherrlichung ins Heroische und beteiligen sich damit an der nationalen Mythisierung der Bergwelt.
Für die von der Ausstellung erzählte Geschichte ist mit Calame ein sinnvoller Schlusspunkt erreicht – allerdings einer, der eigentlich gleich ein neues Kapitel eröffnet. Mythen bleiben in der modernen Welt nie lange unbefragt in Geltung. Und so ist auch Calames Sicht alsbald kritisiert worden, noch etwas verhalten von Barthélemy Menn und dann mit geballter Kraft von dessen Schüler Ferdinand Hodler. Und auch nach diesem Giganten ist die Geschichte der Alpendarstellung keineswegs zu Ende erzählt.
Reinhart-Museum Winterthur: Dutch Mountains – vom holländischen Flachland in die Alpen, bis 20.1.2019, kuratiert von Konrad Bitterli, Andrea Lutz und David Schmidhauser
Der mit instruktiven Texten und sorgfältigem Bildteil aufwartende Katalog ist bei Hirmer erschienen.