In Frankreich, wo Strauss-Kahn vor der Affäre grosse Chancen hatte, als sozialistischer Präsidentschaftskandidat im Frühjahr 2012 gegen Nicolas Sarkozy anzutreten, haben die "New Yorker Ereignisse" - wie die französischen Sozialisten die Tragödie um Strauss-Kahn neutral umschreiben - in den letzten Tagen und Wochen sowohl in den Medien, als auch in der Politik und in der Zivilgesellschaft ein richtiggehendes Erdbeben ausgelöst.
„Sidération“ - ist heute noch das von Frankreichs Sozialisten am häufigsten gebrauchte Wort, wenn sie beschreiben sollen, wie sie auf Dominique Strauss-Kahns Verhaftung in New York reagiert haben. Dieses Wort beschreibt den Zustand, wenn man vor den Kopf gestosssen oder wie vom Donner gerührt und gelähmt ist.
Man erinnert sich: Sozialistische Parteifreunde des IWF-Chefs hatten reihenweise von Tränen gerötete Augen, liessen ihre Handys tagelang abgeschaltet und verordneten sich striktes Schweigen. Andere liessen sich zu überstürzten Reaktionen hinreissen: schliesslich sei bei den mutmasslichen Ereignissen in der New Yorker Sofitel-Suite 2806 ja niemand zu Tode gekommen sagte ein ehemaliger Kulturminister, Strauss-Kahn sei schliesslich kein einfacher Angeklagter wie jeder andere auch und seine öffentliche Präsentation in Handschellen vor dem New Yorker Gericht ein Skandal, empörte sich Strauss-Kahns Freund Bernard-Henri Levy. Der langjährige Herausgeber der Wochenzeitung Marianne, Jean Francois Kahn, kam mit der Formulierung, bei dem mutmasslichen Vergewaltigungsversuch im New Yorker Hotel habe es sich vielleicht nur darum gehandelt, dass da einer dem Dienstpersonal unter die Röcke gegriffen habe.
Die Stimmung kippte
Sie hätten wahrlich besser geschwiegen und haben ihrem Freund DSK nicht wirklich einen Dienst erwiesen. Denn nach der ersten Empörung in Frankreich darüber, wie Strauss-Kahn von der amerikanischen Justiz behandelt wurde, kippte die Stimmung.
Frauenorganisationen und Feministinnen meldeten sich zu Wort, erstaunt darüber, dass hierzulande viel über Verschwörungstheorien geredet wurde, doch kaum jemand von dem mutmasslichen Opfer sprach. Sie erinnerten daran, dass in Frankreich gerade mal 10% der Vergewaltigungsopfer auch tatsächlich Klage einreichen.
Thalia Breton von der Organsiation „Osez le feminisme“, sagte, das Gerede, wonach Strrauss-Kahn nicht das typische Profil eines Vergewaltigers habe, sei unerträglich, ebenso die Mutmassungen, das Opfer sei nicht glaubwürdig, weil sie angeblich nicht hübsch genug sei. Es handle sich da um Stereotypen, die von einer völligen Unkenntniss der sexuellen Gewalt als gesellschaftlichem Phänomen zeugten.
Der Macho in der Politik – ein wohl bekanntes Wesen
Nach und nach lösten sich dann auch bei Frankreichs Politikerinnen die Zungen zum Thema alltäglicher Sexismus in der französischen Politik. Die Sportministerin sagte zum Beispiel, sie überlege sich entsprechend ihres Tagesprogramms am Morgen sehr genau, ob sie sich einen Rock anziehe oder nicht. Weibliche Abgeordnete berichten, dass sie sich sogar auf den Bänken der französischen Nationalversammlung regelmässig anzügliche Bemerkungen gefallen lassen müssen. Dies geht so weit, dass eine Abgeordnete beim Verlassen ihres Platzes im Hohen Haus von einem ihrer Nachbarn angeblich regelmässig gefragt wird, ob sie denn jetzt eine Nummer schieben würde. Die Abgeordnete hat dies nur anonym erzählt und den Namen ihres werten Kollegen nicht genannt. In der Cafeteria der Nationalversammlung hat es wegen eines anzüglichen Witzes auch schon mal weibliche Ohrfeigen gesetzt, doch auch da werden die Namen der Protagonisten verschwiegen.
Indirekt jedenfalls hat die Strauss-Kahn Affäre der französischen Öffentlichkeit jetzt erneut bewusst gemacht, dass es nicht nur mit der Parität in der französischen Politik extrem schlecht bestellt ist, sondern dass der Machsimus in den höchsten Sphären der Gesellschaft und gerade in der Politik immer noch weit verbreitet ist.
Als hätte es noch eines Beweises bedurft, sagten zwei konservative Abgeordnete dieser Tage in den Wandelhallen der Pariser Nationalversammlung, die Frauen sollten doch ein wenig Humor haben. Wenn sie sich den lieben langen Tag beklagten über diese schrecklichen Typen von Männern, über diese Chauvinisten, die die Frauen beherrschen wollen, erreichten sie damit doch nur das Gegenteil, meinte der eine. Sein Kollege gab zum Besten, die weiblichen Abgeordneten wollten sich in der jetzt ausgebrochenen Debatte über Sexismus in der Politik, doch nur zum Opfer machen, das sei derzeit doch die gängigste Methode, um für sich persönlich Werbung zu betreiben .
Staatspräsident Sarkozy, dem die Strauss-Kahn-Affäre auf den ersten Blick nur gelegen kommen konnte, hatte seinen Ministern und seiner Partei in den letzten Wochen zum Thema DSK-Affäre absolute Zurückhaltung verordnet, ja fast ein Redeverbot verhängt. So als hätte er geahnt, dass auch im eigenen Lager ähnlich Unappetitliches ans Tageslicht kommen könnte. Und prompt ist ihm dann - exakt zwei Wochen nach Strauss-Kahns Verhaftung in New York - der Staatssekretär für den Öffentlichen Dienst abhanden gekommen. Zwei frühere Mitarbeiterinnen im Rathaus einer Pariser Vorstadt, wo der Staatssekretär auch Bürgermeister ist, hatten ihn wegen sexuellen Missbrauchs in den Jahren 2007 bis 2009 verklagt - ohne die Affäre Strauss-Kahn hätten sie dies wohl kaum getan und der Staatssekretär hätte nicht zurücktreten müssen.
Bemerkenswert dabei ist und neu für Frankreich: französische Medien haben die Aussagen der beiden Klage führenden Frauen mit allen Details veröffentlicht – wie der Herr Bürgermeister der einen Frau in den Schoss gefasst hat oder mit einer anderen Sekretärin Oralsex hatte. Auch dies wäre vor der Strauss-Kahn Affäre in Frankreich undenkbar gewesen. In der französischen Medienlandschaft scheint diesbezüglich ein Damm gebrochen – die bislang geltende Regel: „Finger weg vom Privat- und Sexualleben der Politiker“ dürfte ausgedient haben.
Doch damit nicht genug: letzte Woche wurde dann bei einer Live-Sendung im Fernsehen - wie so häufig seit Ausbruch der Strauss-Kahn-Affäre - über den Umgang der französischen Medien mit dem ehemaligen IWF-Chef und seiner ausgeprägten Libido diskutiert. Zum hundertsten Mal wurde auch dort die Frage gestellt, warum die Journalisten, die in der Vergangenheit über Strauss-Kahns permanente Schürzenjägerei und seine andauernden Belästigungen gerade auch von Journalistinnen informiert gewesen waren, darüber so gut wie nie geschrieben hatten.
Bei dieser Gelegenheit sagte dann Luc Ferry, seines Zeichens immerhin Philosoph und zwischen 2002 und 2004 Erziehungsminister, so als würde er gerade an einem Stammtisch sitzen: „Da gibt es doch diese Episode eines ehemaligen Ministers, der sich in Marrakech hat schnappen lassen bei einer Orgie mit kleinen Jungen. Wahrscheinlich wissen wir hier alle, um wen es sich dabei handelt. Die Affäre ist mir von den höchsten staatlichen Autoritäten erzählt worden, im besonderen vom Premierminister. Natürlich hab ich keine Beweise, sondern nur Aussagen, von Kabinettsmitgliedern und von staatlichen Autoritäten auf höchstem Niveau.“
Der besagte Minister soll damals, nach Intervention der französischen Botschaft in Rabat, unmittelbar auf freien Fuss gesetzt und ausgeflogen worden sein. Luc Ferry hat mit dieser so locker erzählten Geschichte einen Sturm der Empörung ausgelöst. Kritiker von allen Seiten betonten, er habe bei diesem Auftritt entweder zu viel oder zu wenig gesagt. Wenn er wirklich etwas wisse, solle er sich an die Justiz wenden, anstatt in Fernsehstudios zu palavern.
Inzwischen kümmert sich die französische Justiz um die Angelegenheit, hat eine Voruntersuchung eröffnet und den Philosophen als Zeugen gehört – den Namen des besagten Ministers hat er aber auch bei dieser Gelegenheit nicht genannt. In Marokko haben zwei Kinderschutzvereine eine Klage gegen unbekannt eingereicht.
Man darf befürchten, dass durch die Strauss-Kahn Affäre eine übelriechende Schmutz- und Schlammlawine über die französische Politik hereinbricht, die für den Präsidentschaftswahlkampf in den kommenden 10 Monaten wahrlich keine schönen Perspektiven eröffnet und dafür sorgen dürfte, dass die wirklich ernsten und schwierigen Themen und Probleme, mit denen die französische Gesellschaft konfrontiert ist, weitrgehend unter dem Teppich bleiben. Von diesem Klima und einem Wahlkampf in der Gosse, da sind sich die meisten Experten einig, wird in erster Linie Frankreichs Extreme Rechte um Marine Le Pen profitieren, nach dem Motto: die Politiker und die Kaste der Mächtigen in diesem sind doch allesamt versaut und korrupt.
Noch ein Kollateralschaden
Es waren bezeichnenderweise Kolumnistinnen, die in den letzten Tagen darauf verwiesen hatten, dass das jetzt medial aufbereitete Sexualleben französischer Politiker und anderer bekannter Persönlichkeiten in diesem Land hunderttausende Eltern von heranwachsende Kindern ganz schön ins Schwitzen bringt. Erst habe man dem kleinen Buben, der unter einem Plakat seines Fussballidols Franck Ribéry schläft, erklären müssen, was denn eine gewisse Zahia da für einen Beruf ausübt und was Franck Ribery falsch gemacht hat, als er die Frau mit den blonden Haaren und den grossen Brüsten zum Geburtstag nach München kommen liess. Dann, Mitte Mai, musste man schon wieder erklären. Diesmal dass da einer, der Frankreichs Präsident werden wollte, sich nackt auf ein Zimmermädchen gestürzt haben soll und man hinterher etwas auf der Bluse dieses Zimmermädches gefunden haben soll, das man Sperma nennt. Und als wäre dies für die geplagten Eltern nicht schon genug, kommt dann ausgerechnet auch noch ein ehemaliger Erziehungsminister daher und spricht von „Orgien eines französischen Ministers mit kleinen Jungen in Marrakesch". Man stellt sich lebhaft vor, wie in hunderttausend Wohnungen am Frühstückstisch kurz vor der ersten Schulstunde die Frage gestellt wurde : „Maman, c'est quoi, une partouze?" - und die Eltern dann erst mal mit der Gegenfrage antworten: „Weisst Du überhaupt, wo Marrakesch liegt?“
P.S. Ganz nebenbei bemerkt, und diese Beobachtung kommt aus New York von einem Professor am Brooklin College und Kolumnisten in mehreren amerikanischen Zeitungen: die Strauss-Kahn-Affäre, mit allen ihren Ingredenzien, - jüdische Freunde, die Strauss-Kahn lautstark unterstützen, ein jüdischer Rechtsanwalt, der ihn verteidigt, das viele Geld, das im Spiel ist und das Vermögen seiner Frau, Anne Sinclair, Enkelin eines jüdischen Kunsthändlers, das ihm seinen Lebensstil und die Verteidigung in New York überhaupt ermöglicht - all das hat bislang in Frankreich nicht eine einzige antisemitische Äusserung zur Folge gehabt. Und das, so der New Yorker Autor, sei nun wirklich beachtenswert.