Der Titel zog mich an, aber ich machte mich auf ein anspruchsvolles Werk gefasst. Abhandlungen über „Digitales“ sind meistens technisch abgehoben. Ein solches Buch zu Ende zu lesen, bringe ich jeweils nur mit grösstem Pflichtgefühl hinter mich. Bei der „Agenda“ packte mich die Neugierde, wie bei einem Kriminalroman. Was bringen sie jetzt noch, dachte ich bei jedem Ende eines Kapitels.
Nach Abschluss der Lektüre schlage ich vor, dass dieses Buch alle Mitglieder unserer Landesregierung, Politikerinnen und Politiker aller Behörden auf allen Stufen, politisch interessierte Menschen – politisch Nichtinteressierte erst recht – erhalten sollen. Woher das Budget für eine solche umfassende Buchaktion? Wenn sich wirklich keiner der herkömmlichen Töpfe öffnen sollte, bleibt immer noch „Crowdfunding“!
Die Demokratie, neu erfinden
Im letzten Kapitel „Digitale Demokratie unter Zeitdruck“ wird Bundeskanzler Walter Thurnherr zitiert (S. 167). Es gehört zu den Aufgaben der Bundeskanzlei, digitale Projekte des Bundes, z. B. E-Voting, also die elektronische Stimmabgabe, zu betreuen. Der Bundeskanzler äussert sich gemäss Zitat folgendermassen:
„Das Automobil wurde 1905 erfunden. Aber es dauerte bis 1960, also über ein halbes Jahrhundert, bis die Schweiz ein Nationalstrassennetz hatte. Diese Zeit haben wir heute nicht mehr.“ In diesem Sinne ist auch das oben genannte zehnte Kapitel abgefasst. Es beginnt: „Die Dynamik und die Radikalität der technologischen Entwicklung stellt die schweizerische Demokratie auf eine Bewährungsprobe. Sie muss sich unter digitalen Bedingungen neu erfinden und gleichzeitig das fein austarierte System in Balance halten – dies in möglichst kurzer Zeit.“
Die beiden Autoren sind im Wissen über die Abläufe in unserer schweizerischen Demokratie sattelfest. Warum das so ist, kann den Lebensläufen hinten im Buch entnommen werden. Aus ihren vielfältigen Erfahrungen heraus können sie uns immer wieder darauf hinweisen, wo digitale Abläufe bereits alltäglich sind, wo Möglichkeiten für solche bestehen, wohin die technologische Entwicklung noch führen wird, führen kann.
Ein Graben tut sich auf
Sie führen uns vor Augen, wie die Mitbestimmung der Bürgerinnen und Bürger z. B durch Errichten digitaler Plattformen erweitert werden könnte. Sie nennen entsprechende Beispiele. Und immer wieder machen sie darauf aufmerksam, was für Umwälzungen das mit sich bringen könnte.
Wichtig scheint mir auch folgende Aufforderung im sechsten Kapitel: „Hybride Mediensysteme zwischen Hybrid und Krise“: „Medienkompetenz und die entsprechende Schulung von Bürgerinnen und Bürgern muss eine höhere Priorität erhalten. Der Fokus staatlicher Massnahmen sollte dabei insbesondere auf der jüngeren Generation liegen, denn die Geschwindigkeit der digitalen Transformationen verunmöglichen beispielsweise, dass Eltern einen Vorsprung haben, den sie weitergeben können.“
Darüber muss nicht nur nachgedacht, sondern es muss auch gehandelt werden, finde ich. Wie war es doch in der Geschichte der Menschheit, als das Lesen und Schreiben aufkam? Ein Graben tat sich auf zwischen denen, welche die neuen Techniken beherrschten und der übrigen Bevölkerung. Das erleben wir in ähnlicher Art in der Gegenwart mit der analogen Welt, in welche die digitalen Möglichkeiten einbrechen. Wer im aktiven Berufsleben steht, hat hier keine Wahl. Aber wir im Ruhestand können, vorläufig noch, kokettierend mit Fortschrittsgläubigkeit einerseits und Abstinenz anderseits, zwischen den beiden Welten pendeln.
Versachlichung der Debatten
Für mich als gestandene Politikerin war das fünfte Kapitel über „Das Zeitalter der kollaborativen Demokratie“ höchst interessant. Da ich diesen Begriff noch nie gehört hatte, googelte ich ihn. Und fand einen sehr fundierten Artikel darüber von Jascha Rohr vom „Institut für partizipatives Gestalten“ in Oldenburg/D. Und weise damit auf einen weiteren Aspekt der „Agenda“ hin. Die Schreiber sind Praktiker. Sie belegen ihre Aussagen mit Hinweisen in den Anmerkungen. Aber die Leserinnen und Leser müssen selbst dafür sorgen, dass sie „mitkommen“. Und nicht bekannte Begriffe können wir ja googeln!
In diesem fünften Kapitel wird dem „Abstimmungsbüchlein“ viel Platz eingeräumt Zuerst kommen die Fakten. Das Büchlein existiert seit 1977. Es ist mit rund 5,4 Millionen Exemplaren die auflagenstärkste Publikation der Schweiz und wird von der Bundeskanzlei herausgegeben. Es hat auch den Weg ins Internet geschafft, ergänzt mit erklärenden Videos und audiovisuellen Dokumenten. Dazu wird die Frage aufgeworfen, ob sich die Bundeskanzlei davon verabschieden sollte, die Bevölkerung „nur“ zu informieren?
Der Vorschlag wird zur Diskussion gestellt, das Abstimmungsbüchlein im Rahmen eines Pilotprojekts umgehend in ein bürgernahes Informationsportal zu verwandeln. Auf einer Online-Plattform könnten Informationen zeitnah aufgeschaltet werden, wenn nötig bis kurz vor dem Abstimmungstermin. Bürgerinnen und Bürger könnten Sachfragen deponieren, welche von der Regierung und den Komitees öffentlich und transparent beantwortet werden könnten. Dadurch wäre eine Versachlichung der Debatten möglich, „die durch die Kommunikation in Online-Medien und über soziale Kanäle immer lauter und schriller werden“, wie die Autoren schreiben. Sie weisen aber auch darauf hin, dass die heikle Debatte, ob die Verwaltung in einer direkten Demokratie eine aktivere Rolle als heute spielen soll, erst geführt werden muss.
„Aha-Erlebnisse“
Auch das ist ein Vorzug dieses Buches: Immer wieder wird eindringlich darauf hingewiesen, dass durch den Einbezug der digitalen Möglichkeiten in die Abläufe der direkten Demokratie sich grundsätzliche staatspolitische Fragen neu stellen und diese neu diskutiert werden müssen!
Am Anfang habe ich geschrieben, ich hätte mich auf ein „anspruchsvolles Werk“ gefasst gemacht. Anspruchsvoll ist es in der Tat. Aber die Autoren verstehen es, die Fülle der Informationen, die Denkimpulse, die vielen Beispiele in einer angenehmen Sprache zu präsentieren. Und die eingestreuten „Szenarien“ wirken wie Szenen aus Theateraufführungen, die zu „Aha-Erlebnissen“ führen.
Nicht verhehlen will ich, dass mich ein Bild aus der Meme-Kampagne der Operation Libero gegen die Durchsetzungsinitiative vom Februar 2016 auch heute noch umhaut. Da ist das liebe Gesicht eines kleinen Mädchens zu sehen, umrahmt vom Text: „Ich säg einfach de Luca ischs gsi ... denn wird er usgschafft.“ (S. 120)
Anmerkung: „Memes“ verdichten komplexe Inhalte, passen vom Format her in Social-Media-Kanäle und haben je nachdem auch Unterhaltungswert.
Vernissagen:
Zürich: 11. Juni, 18.30 Uhr, Sphères, Hardturmstr. 66, Zürich
Basel: 12. Juni, 19.30 Uhr, unternehmen mitte, Salon 1. OG, Gerbergasse 30, Basel
Daniel Graf/Maximilian Stern: „Agenda für eine digitale Demokratie, Chancen, Gefahren, Szenarien“, 171 S., NZZ Libro 2018, ISBN 978-3-03810-328-8.