Zu seinem 90. Geburtstag in der vergangenen Woche setzte die Schweizer Presse Jean Ziegler an den Katzentisch. Die NZZ raffte sich erst in der Sonntagsausgabe dazu auf, ihn zu erwähnen, der Tages-Anzeiger fand für einen Beitrag über ihn wohl nicht einmal einen Volontär, und in einigen anderen Medien gab es lediglich ein mehr oder weniger verlegenes Räuspern.
Jean Ziegler ist eine der prominentesten Schweizer Stimmen in der Welt, wenn nicht die prominenteste, aber für die Schweizer auch die peinlichste. Denn seine Anklagen verstossen gegen den guten Ton. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung stellte bei ihrer Würdigung seines 90. Geburtstags heraus, mit welcher Verve Jean Ziegler den Skandal des Welthungers anprangert. Und auf der Anklagebank sitzen auch die Schweizer.
Ziegler war von September 2000 bis April 2008 Uno-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Er sieht in der Tatsache, dass von Jahr zu Jahr mehr Menschen an Hunger sterben, kein unabwendbares Schicksal, sondern geradezu ein Komplott des Westens: Der Westen begeht am hungernden Süden Mord. Das ist mehr als unterlassene Hilfeleistung.
Kurz vor seinem Geburtstag hat der Penguin-Verlag eine neue Ausgabe des vor mehr als 20 Jahren bei Bertelsmann erschienenen Buchs unter dem Titel «Wie kommt der Hunger in die Welt. Antworten auf die Fragen meines Sohnes» herausgebracht. Jean Ziegler argumentiert in dem aktualisierten Vorwort, dass es nach dem heutigen Stand der Agrarwirtschaft möglich sein sollte, 12 Milliarden Menschen zu ernähren. «Immer und schlimmer noch wütet der Hunger. Der Massenmord, der Jahr für Jahr durch den Hunger an Millionen Menschen begangen wird, auf einem Planeten, der von Reichtum überquillt, ist der absolute Skandal unserer Zeit.» Man kann diese Zahlen in gewissen Grenzen bezweifeln, aber an einer Tatsache kommt niemand herum: Wenn es um Nahrungsmittel geht, fehlt allüberall das Geld.
Die Schweiz wäscht weisser
Nun versteht Jean Ziegler vom Geld sehr viel mehr, als seinen Eidgenossen lieb ist. In mehreren Büchern hat er sich damit auseinandergesetzt, wie gerade die Schweiz zum Knotenpunkt von Finanzströmen diverser Potentaten und Verbrecher aus aller Welt geworden ist. «Die Schweiz wäscht weisser. Die Finanzdrehscheibe des internationalen Verbrechens» (1990) hiess eines seiner Bücher, das jedem unvoreingenommen Leser bis heute die Schamesröte ins Gesicht treiben muss.
Mit diesen Büchern hat sich Jean Ziegler als Nestbeschmutzer etabliert, und man geht nicht fehl in der Annahme, dass er sich in dieser Rolle auch gefallen hat. In Genf bekleidete er eine Professur für Soziologie und war zugleich ständiger Gastprofessor an der Sorbonne in Paris. Entsprechend nannte man ihn «Monsieur TGV». Und wenn er ein gehobenes Restaurant mit einem selbstverständlich für ihn reservierten Tisch betrat, war von der ersten bis zur letzten Minute klar, wer hier der Gentleman ist, dessen Gesten kein Kellner übersehen sollte.
Mehr als drei Millionen Bücher hat er weltweit verkauft und könnte entsprechend wohlhabend sein. Aber wieder und wieder wurde gegen ihn geklagt, so dass er nach eigenen Angaben einen Schuldenstand von mehreren Millionen Euro hat.
Seine Anklage, dass der Westen einen Massenmord des Hungers begeht, trifft – vielleicht etwas zu sehr moralisierend vorgetragen – einen entscheidenden Punkt. Denn zahlreiche Nahrungsmittelprogramme der UN müssen reduziert oder ganz aufgegeben werden, weil die Finanzierung fehlt. Kann man sich einen schlimmeren Offenbarungseid der Weltgemeinschaft vorstellen? Ziegler möchte daher die gesamte Lebensmittelproduktion von der Finanzwirtschaft abkoppeln und sie unter die Schirmherrschaft einer internationalen Instanz stellen.
Diese Idee ist ganz sicher problematisch. Das Wirken von Behörden wirft viele Fragen auf. Aber es muss auch zu denken geben, dass es immer genug Geld für Waffen gibt – auch in den ärmsten Regionen dieser Welt. Und die Erfindungsgabe in der Entwicklung immer raffinierterer Waffensysteme ist grenzenlos. Warum gibt sich die Menschheit so wenig Mühe, ihre Möglichkeiten und ihre Kreativität auf die Überwindung des Hungers zu richten?