Die blutigen Zusammenstösse mit IS-Terroristen an der türkisch-syrischen Grenze haben dazu geführt, dass die Türkei nach Jahren des Zögerns ihre Syrienpolitik geändert hat. Bisher hatte Ankara als sein politisches Hauptziel in Syrien den Sturz des Asad-Regimes angestrebt. Die Regierung der AK-Partei unter Präsident Erdogan hatte hartnäckig ein Überflugverbot in einer Zone im nördlichen Syrien entlang der türkisch syrischen Grenze gefordert.
Dies wollte sie mit der Hilfe der USA erreichen. Doch die Amerikaner waren nicht bereit, den türkischen Plan zu fördern, weil er unvermeidlich zu einem Krieg mit der Asad-Regierung geführt hätte. Hinter ihr stehen bekanntlich Iran und Russland. Washington wollte vermeiden, in einen neuen Nahostkrieg verwickelt zu werden, der sich leicht zu einem Stellvertreterkrieg gegen Russland und Iran hätte ausweiten können. Für die Amerikaner hatte der Kampf gegen den IS Priorität, Ankara jedoch bestand darauf, dass der Krieg gegen Asad wichtiger sei.
Bisher geduldet, nun bekämpft
Dies hat sich nun geändert, nachdem der IS die Türkei direkt herausgefordert hat, zuerst durch den Selbstmordanschlag von Suruc, der 32 Tote und etwa hundert Verletzte gefordert hat.
Der Anschlag soll nicht, wie zuerst vermutet, von einer Frau durchgeführt worden sein, sondern von einem 20-jährigen Kurden türkischer Nationalität, der nach Syrien ausgereist war. Der IS setzte seine Provokationen fort, indem er am Donnerstag drei türkische Soldaten an der Grenze beschoss; einer starb sofort, die beiden anderen wurden verletzt. Dies veranlasste die türkische Armee zurückzuschlagen. Mit Panzern beschoss sie Positionen und Strassensperren, die der IS an der türkischen Grenze errichtet hatte. Auch drei Kampfflugzeuge wurden eingesetzt. Sie sollen, nach der türkischen Darstellung den Grenzort Hawar, auf der syrischen Seite der Grenze gegenüber dem türkischen Städtchen Killis gelegen, mit Raketen beschossen haben, ohne selbst in syrisches Hoheitsgebiet einzudringen.
Grossaktion der Polizei gegen IS-Anhänger
In der Türkei selbst gingen 10‘000 Polizeikräfte gegen Personen vor, denen sie vorwerfen, Mitglieder des IS zu sein – oder zumindest in Verbindung zu den Terroristen zu stehen. Allein in Istanbul wurden 5‘000 Polizisten eingesetzt. 297 Personen wurden festgenommen, wie Ministerpräsident Davutoglu erklärte, 37 davon seien Ausländer.
Unter den Verhafteten scheinen sich allerdings auch Mitglieder von linksextremen Gruppen - und solche der PKK - befinden. Der Kampf gegen den IS und gegen die kurdische PKK werde weitergeführt, versicherte der Ministerpräsident.
Ein strategischer Fehler von IS ?
Es steht ausser Frage, dass es der IS war, der diese Konfrontation mit der Türkei auslöste. Warum er das tat, ist weniger leicht zu verstehen.
Die Türkei war als Transit- und Etappenland für den IS von grosser Wichtigkeit. Tausende ausländischer Kämpfer sind über die Türkei nach Syrien eingereist und haben die Ränge der IS-Terroristen verstärkt. Das Rohöl, das der IS aus den syrischen und den irakischen Erdölbohrungen gewann, wurde grossen Teils in die Türkei gebracht und dort zu verbilligten Preisen verkauft. Umgekehrt erhielt der IS via die Türkei viele Waffen und Munition.
Der IS provoziert eine politische Wende
Warum hat der IS diese sehr wichtigen Vorteile aufs Spiel gesetzt, indem es seinen türkischen Nachbarn provozierte? Eine mögliche Antwort könnte sein, dass der IS annahm, die Türkei würde seine Interessen ohnehin nicht mehr lange dulden (wenn man nicht gar von Förderung sprechen will). Die amerikanischen Diplomaten, die in Ankara einmal mehr versuchten, die Türkei davon abzubringen, die Interessen des IS zu dulden, waren vor dem Anschlag in Suruc abgereist.
Im Anschluss an diese Gespräche – zwischen dem 9. und 12. Juli hatten türkische Polizisten und Geheimdienstleute 45 vermutliche IS-Agenten und Sympathisanten des "Kalifats" in Gaziantep festgenommen. In andern türkischen Städten wurden 21 Personen verhaftet. Suruc könnte eine Antwort des IS auf diese Entwicklungen gewesen sein. Es ist aber auch denkbar, dass Gruppen im syrischen Grenzraum spontan handelten, ohne Weisung von der IS-Führung erhalten zu haben. Jedenfalls erwies sich die Konfrontation mit der Türkei als ein schwerwiegender strategischer Fehler von IS.
Incirlik nun für Bombeneinsätze auf den IS zugelassen
Am deutlichsten wurde dies, als am 22. Juli, kurz nach dem Anschlag, bekannt wurde, dass die Amerikaner von nun an die Nato-Luftbasis von Incirlik, nahe bei Adana, für ihre Angriffe auf IS-Stellungen benutzen können. Obama und Erdogan hatten dies telefonisch vereinbart.
Bisher hatte die Türkei die Benutzung von Incirlik für Bombardierungen gegen den IS untersagt. Die Bedeutung der jetzigen Erlaubnis ist gross, weil bisher alle amerikanischen Kampfflugzeuge, die über dem Irak und über Syrien agieren, von Flugzeugträgern und Luftwaffenbasen am Persischen Golf für ihre Einsätze starten mussten. Der viel kürzere Anflugweg aus dem benachbarten Incirlik dürfte dazu führen, dass die Bombenangriffe auf IS-Stellungen intensiviert werden – und erst noch billiger sind.