Populist ist, wer Bauchgefühle mobilisiert. Der Populist zielt auf Emotionen, nicht auf den Verstand. Aber zahlreiche Populisten erwecken den Eindruck, sie würden argumentieren. Ständig beziehen sie sich auf irgendwelche „Tatsachen“, ziehen dieses und jenes heran. Sie trumpfen geradezu damit auf, dass sie die „besseren“ Argumente haben, Argumente, die die Gegner sprachlos machen. Wo Populisten auftreten, sind ihre Widersacher immer schon in der Defensive, denn deren Argumente müssen sich entwickeln, brauchen Zeit – und haben schon deswegen von vornherein verloren.
Reduktion von Komplexität
Populisten sind nicht dumm und sie sind manchmal gar nicht so schlecht informiert. Aber sie verarbeiten ihre Informationen kurzschlussartig. Während Informationen und Argumente ihrer Widersacher über mehrere Schaltkreise ihre Bahnen ziehen, schliessen die Populisten ihre Argumente kurz, ohne jede weitere Verarbeitung, ohne jedes Sicherungssystem. Es ist wie ein Essen ohne Besteck, mit den Fingern – und genauso elementar. Das macht die Wucht des Populismus aus.
„Reduktion von Komplexität“ ist ein soziologisches Schlagwort, das Niklas Luhmann geprägt hat. Dahinter steckt die Beobachtung, dass unsere Gesellschaft in allen Bereichen immer komplexer wird: Die Technik erfordert immer mehr Wissen, Märkte erfordern immer genauere Kenntnisse und auch im mehr oder weniger privaten Bereich sind an die Stelle der früheren mündlichen Übereinkunft, dem „Handschlag“, andere Absicherungen getreten. Dieses Anwachsen der Komplexität weckt die Sehnsucht nach Vereinfachung, eben der „Reduktion“. Anstatt sich selber in eine komplexe Materie mit all ihren Fussangeln einzuarbeiten, möchte man jemandem „vertrauen“ können, etwa beim Kauf eines Autos oder bei einer Geldanlage.
Kanzler als Populisten
Vertrauen ist ein Mittel zur Orientierung in einer unübersichtlichen Welt. Wer mit einfachen Worten und Gesten den Eindruck erweckt, zu Gunsten der Benachteiligten durch diese Welt zu navigieren, ist nahezu unwiderstehlich. Früher nannte man solche Gestalten „Führer“. Heute spricht man lieber von „Ausstrahlung“ und „Charisma“. Wer seine „Botschaft“ über die Medien „glaubwürdig“ zu vermitteln weiss, gewinnt – aber er muss deswegen noch kein Populist sein.
Was unterscheidet den populären Politiker vom Populisten? Die Grenzen sind fliessend. Dem ehemaligen deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder wurde Populismus vorgehalten, als er gegen Lehrer oder die Bürokratie in Brüssel vom Leder zog. Dasselbe Schicksal ereilte seine Nachfolgerin Angela Merkel, als diese gegen die Kernkraft oder gegen Eurobonds eintrat. Aber würde man Schröder und Merkel mit Hugo Chavez, Jörg Haider oder Silvio Berlusconi gleichzusetzen? Eher nicht, zumindest wenn man nicht zum Lager ihrer fundamentalen politischen Gegner gehört. Aber bei genauem Hinschauen zeigt sich, wie schwierig Trennlinien zu ziehen sind.
Das hängt damit zusammen, dass man „Populisten“ oder deren Politik zwar als Gegner definieren kann, der „Populismus“ selber aber Wurzeln hat, die sich gar nicht eliminieren lassen. Im Gegenteil. Ohne Populismus geht gar nichts. Oder hat es ein Politiker schon einmal bis ganz oben geschafft, ohne „populär“ zu sein, also ohne an etwas zu appellieren, das man heute gern als Emotion bezeichnet? Kein Politiker, aber auch kein Künstler oder Autor kommt ohne derartige Elemente aus.
Endlosschleifen
Um das genauer zu verstehen, lohnen sich zwei Exkurse: in das Gehirn und in den Markt. Zunächst das Gehirn oder die Art, wie wir Entscheidungen treffen: Es ist zwar richtig, dass wir mehr oder weniger rational denken, also Informationen logisch ordnen, klassifizieren und kommunizieren. Damit allein aber gerieten wir in Endlosschleifen. Das haben Computerexperimente schon vor Jahrzehnten gezeigt. Pure Information und pure Logik erzeugen Ergebnisse, die - bis ins Letzte durchdacht - so viele Vor- und Nachteile aufweisen, dass man nicht entscheiden kann. Um zu Entscheidungen zu kommen, muss man diese Logik durchbrechen und zum Beispiel würfeln.
Der Mensch tickt aber anders als ein Computer. Denn seine Gedanken sind von Emotionen begleitet. Man sollte bei Entscheidungen „ein gutes Gefühl“ haben. In diesem Zusammenhang spricht man von „Kopf“ und „Bauch“, und die Erfahrung lehrt, dass Bauchgefühle oft bessere Ratgeber sind als reine Kopfentscheidungen. Wir brauchen also den Populisten in uns, damit unsere Ratio sich nicht in Endlosschleifen verfängt oder uns in die falsche Richtung leitet.
Das Vulgäre
Ganz ähnlich funktioniert der Markt. Kein Produkt kann ohne „Marketing“ verkauft werden, auch keine Politik. Werbung ist kein rationaler Diskurs. Vielmehr kommt es darauf an, dass die Produkte über ihre Präsentation unmittelbar „Emotionen“ ansprechen. Es sind diese Emotionen, die die Gehirne dann so steuern, dass daraus die von den Produktanbietern gewünschten Kaufentscheidungen hervorgehen. Wenn man sich die dominierende Rolle des Marktes in unserer Gesellschaft klarmacht, so erkennt man leicht, dass der politische Populismus gemessen daran eher ein Randphänomen darstellt.
Der Populismus des Marktes verändert unmerklich unser Fühlen und Denken. Denn die Orientierung des Marketings an „Trends“ und am Massengeschmack einer zunehmend globalisierten Welt setzt Massstäbe, die jedem überall und zu jeder Zeit unmittelbar einleuchten müssen. Lautlos und in kleinsten Schritten wird unser Denken und Fühlen darauf ausgerichtet. Dabei gibt es einen Effekt, der dem des Populismus ähnlich ist: Da die Signale um der allgemeinen Verständlichkeit willen immer elementarer werden müssen, haben wir es mit einer Anpassung an das Vulgäre zu tun, wie zum Beispiel der Trendforscher Daniel Bosshart beobachtet. Rational ist ein Marketing, das sich immer stärker weltweiten elementaren Emotionen annähert. Einfacher gesagt: Die Kunst der Verführung besteht in der Kunst, das Einfachste zu durchschauen und nutzbar zu machen.
Das Ressentiment
Doch der politische Populismus hat Elemente, die ihn vom weltweiten Marketing fundamental unterscheiden. Etwas fehlt nämlich bei der Werbung und der Präsentation von Produkten, ohne das kein politischer Populismus, sei er nun rechts oder links, auskommt: das Ressentiment. Produkte sollen das Selbstwertgefühl der Käufer heben. Das ist ihr Versprechen. Im Populismus geht es auch um die Hebung des Selbstwertgefühls, aber das geschieht immer durch die Abwertung der anderen.
Die Abwertung des Gegners kann auf vielerlei Weise geschehen, denn sie ergibt sich aus der felsenfesten Überzeugung,dass die eigene Gruppe allen anderen überlegen ist. Die eigene Gruppe: die kann ethnisch definiert sein oder auch durch Überzeugungen gebildet werden. Populistische Gruppen auf der Basis von Überzeugungen sehen in den jeweiligen Gegnern entweder Verblendete oder Korrupte.
Die Gruppenstabilität
Das Ressentiment ist dasjenige Element, das die absolut negative Konnotation des Begriffs Populismus hervorruft. Wenn man wissen möchte, ob die eine oder andere Äusserung von Politikern wie Schröder, Merkel oder auch Cameron und Hollande populistisch sind, muss man nur fragen, ob diese Äusserungen Ressentiments mobilisieren.
Ressentiments zu mobilisieren, ist unverantwortlich. Denn mit Ressentiments wird jede Möglichkeit von Einigungen untergraben. Kompromisse mit Gruppen, die abgewertet wurden, sind kaum durchsetzbar, auch nicht in der eigenen Gruppe. Ressentiments wirken noch in einer anderen Weise destruktiv. Denn sie ersetzen rationale Argumentation und blockieren die eigene Lernfähigkeit. Gerade bei komplexen technischen Fragen wie der Energieversorgung oder bei Verkehrssystemen haben populistische Parolen auf beiden Seiten zu hoher Mobilisierung geführt, aber so lange sich die unterschiedlichen Meinungsgruppen gegenseitig nur einseitige oder interessegeleitete Sichtweisen unterstellen, wird keine Gruppe vom Wissen der anderen profitieren. Beide Seiten bleiben auf niedrigem Niveau – was für die Gruppenstabilität wiederum gut ist.
Provokationen
Wie sich der Populismus verflüchtigt, wenn Gruppen lernfähig sind, lässt sich sehr schön beobachten. Die Grünen zum Beispiel haben seit 1983, als sie in den deutschen Bundestag einzogen, tiefgreifende Lernprozesse durchgemacht. Anders hätten sie den Weg von einer reinen Protestpartei zu einer ernstzunehmenden parlamentarischen Kraft nicht gehen können. Das heisst aber nicht, dass immer dann, wenn Populisten oder ihre Gruppen auf einer erweiterten Bühne auftreten, Lernprozesse stattfinden und sich der Populismus in einen mehr oder weniger rationalen politischen Diskurs verwandelt.
Ein Beispiel dafür ist Silvio Berlusconi. Er legt es geradezu darauf an, mit Äusserungen, die im wahrsten Sinne des Wortes völlig indiskutabel sind, zu provozieren. Umberto Eco hat sich als Literat, Semiotiker und politischer Beobachter einmal genauer mit dieser Taktik beschäftigt (1). Dabei stellte er zwei Elemente heraus: Zum einen lenken die Provokationen von aktuellen Problemen ab. Wenn es vor den Gerichten wieder mal eng wird für Berlusconi, beleidigt er eben öffentlich Kanzlerin Merkel. Damit ist sein Gerichtsthema vorerst vom Tisch.
Der Autoverkäufer
Das andere Element besteht nach Umberto Eco darin, dass Berlusconi mit seinen schrillen Tönen und Provokationen ganz klar signalisiert, dass er überhaupt nicht an einer rationalen Auseinandersetzung interessiert ist. So kann er heute dies behaupten und morgen das, heute dieses fordern und morgen jenes – und bleibt sich doch immer gleich. Eco vergleicht Berlusconi mit einem Autoverkäufer, der zunächst ein Auto als Boliden anpreist. In dem Augenblick aber, in dem er merkt, das die Käufer genau das Gegenteil davon suchen, preist er dasselbe Auto als Familienkutsche an. Und er geht derartig schmeichelnd auf die Wünsche der Käufer ein, dass sie den Unterschied zu dem, was der Verkäufer ihnen am Anfang versichert hat, nicht bemerken.
Ecos Beobachtungen und Analysen lassen sich um eine Deutung erweitern: Die dreiste Provokation, die den populistischen Provokateur eigentlich total disqualifizieren müsste, erzeugt in den Augen seiner Anhänger ein gesteigertes Selbstwertgefühl. Denn ihr Anführer hat es gar nicht mehr nötig, sich mit schnöden Argumenten abzugeben wie diejenigen Kretins, die doch eigentlich nur noch Fusstritte wert sind. Diese Art der Provokation wird in Italien ganz besonders gut verstanden. Denn sie hat ein altes und mächtiges Vorbild: die Mafia. Wer ein wahrer Mafia-Führer sein will, pfeift auf die Justiz, und wenn er ihr wieder mal ein Schnippchen schlägt, hat er höhere Weihen.
Ganz unabhängig von Italien und Berlusconi ist der politische Populismus eine der gefährlichsten Drogen unserer Zeit. Denn er verleugnet die harte Realität einer Welt, in der sich nur orientieren kann, wer mehr als nur den eigenen Standpunkt einnimmt. Die Fähigkeit, die eigene Gruppe, die eigenen Ansprüche und Meinungen, Vorlieben und Wünsche auch einmal aus der Perspektive der anderen zu betrachten, ist die Bedingung jeglichen Zusammenlebens – lokal und global. Wer so tut, als genüge es, den eigenen Standpunkt absolut zu setzen und lautstark zu vertreten, sät Gewalt. Deswegen ist Populismus nie und nirgends harmlos, wie bieder er sich auch gebärden mag. Wer Ressentiments an die Stelle fairer Auseinandersetzung stellt, geht den Weg in den Abgrund – ein Weg, der leider sehr breit sein kann.
(1) Umberto Eco, Im Krebsgang voran. Heisse Kriege und medialer Populismus, Carl Hanser Verlag, München 2007