Denken vollzieht sich sprachlich. Jeder Gedanke braucht einen Körper: die Sprache. Der menschliche Körper muss trainiert, ihm muss Sorge getragen werden. Genau gleich geht es der Sprache. Sie muss entwickelt und gefördert werden. Im Elternhaus, in der Schule. Das ist eigentlich grundlegend und darum selbstverständlich, könnte man meinen.
Schönreden hilft nicht – handeln tut not
Doch das Fraglose ist nicht einfach selbstverständlich. „Ich stelle fest, dass die Deutschkompetenzen der Studierenden teilweise katastrophal sind“, konstatiert Matthias Aebischer, Präsident der nationalrätlichen Bildungskommission und Dozent an der Universität Bern. Was Aebischer aus erster Hand erfährt, hat ETHZ-Rektor Lino Guzzella schon vor drei Jahren klar signalisiert: „Die Leute müssen richtig lesen, schreiben und sprechen können. Das gilt auch für Naturwissenschafter und Ingenieure.“ Doch die Kenntnisse seien zum Teil ungenügend, fügte er bei (NZZaS, 29.7.2012).
Nichts von Guzzellas Kritik wissen wollte der Präsident der Konferenz Schweizerischer Gymnasialrektorinnen und Gymnasialrektoren KSGR, Aldo Dalla Piazza. Solche Klagen seien alt, meinte er und ergänzte: „Ich stelle keinen Kompetenzenschwund bei Maturanden fest.“ Reaktion durch Negation. Fakt ist: Immer mehr Studierenden fällt es immer schwerer, einen Sachverhalt klar und konzis auf den Punkt zu bringen. Das bringt die Evaluation der Maturitätsreform zutage (Evamar II). Doch genau darauf käme es an: aus dem Strom der Informationen einen Gesichtspunkt stringent herauszuschälen und kohärent darzustellen, eine Perspektive eigenständig zu skizzieren und einen Gedanken präzis zu formulieren. Eben: einen verdichteten, kristallinen Text kreieren.
Die fremde Welt der formalen Sprache
Sprachliches Können ist weder geheimnisvoll, noch fällt es vom Himmel. Sprechen und Schreiben sind ein Handwerk, und sie wollen wie jedes Handwerk gelernt sein. Dazu gehören nebst Selbstverständlichkeiten wie Grammatik, Orthografie und Interpunktion auch die Klarheit der Sprache – und die Angemessenheit ihres Gebrauchs. Sie sind intensiv zu üben und zu fördern.
Das geschieht aber in einem kontraproduktiven Umfeld. Gratisblätter wie „20 Minuten“ markieren die Tendenz in der heutigen Lesezeit. Fast-Food-Information, in kleinen Häppchen präsentiert und schnell konsumiert. Dass vieles so leicht zu haben ist, zeitigt Folgen. Wer kurze Wege gewohnt ist, reagiert unwirsch auf längere, oder anders gesagt: Die Welt der nichtalltäglichen Sprache, des Diskurses, ist für die meisten Schüler eine fremde Welt. Jugendliche orientieren sich an ihrer gewohnten Alltagswelt; das ist die Populärkultur mit WhatsApp, Facebook und Instagram.
Formale Sprache und Diskursivität werden daher als ungewohnt erlebt; neue Sprachbarrieren bauen sich auf. Das Lesen und Sinnverstehen nichtalltäglicher Texte wird für manche zur anstrengenden Arbeit und der Appell an differenziertere Versprachlichung zu einer subjektiven Zumutung. Für die Lehrerinnen und Lehrer bedeutet dieses Unbehagen der Schüler einen erheblichen Zuwachs an Arbeit und Engagement.
Jugendliche lassen sich „nicht zutexten“
Der kräftige Wandel der Lebensbedingungen bewirkt eine veränderte Jugendkultur. Soziale Medien, Kauf, Kommerz und Konsum beeinflussen das Aufwachsen. Der Auftrag der Schule trifft auf das postmoderne Lebensgefühl. In der schnelllebigen Jugendkultur steht das „Feeling“ über dem Wort, das „Gefühl“ über der Abstraktion, die „Atmosphäre“ vor der Ratio. An die Stelle des Bildungshungers ist Erlebnisdurst getreten. Das erhöht den Abstand zwischen Schule und Jugend und damit den Anspruch an den Unterricht.
Der Film "Crazy" nach dem Bestseller-Roman von Benjamin Lebert zeigt dazu eine schöne Szene. Die Hauptfigur, der 16-jährige Benny, weilt im Internat und erhält von einem freundlich-bemühten Mathematiklehrer Nachhilfeunterricht. Der Lehrer kann nicht übersehen, dass Benny mental völlig abwesend wirkt; er weilt in seiner „Eigenwelt“. So beginnt er einen lebenspädagogischen Diskurs: Benny müsse lernen, in wenigen Jahren für sein Leben selber verantwortlich zu sein. Der Lehrer redet ihm zu. Als er fertig ist, schaut Benny ihn – ohne grössere mimische Reaktion zu zeigen – an, nicht unfreundlich, nicht bewegt. Nach einer kleinen, wortlosen Pause fragt er: „Kann ich heute eher gehen?“ Mit seinem Lehrer lässt er sich auf keinen Gegen-Diskurs ein. Im Gegenteil: Er umgeht ihn. Im Jugendjargon ausgedrückt: Er lässt sich "nicht zutexten".
Schule als kulturelle Gegenwelt – Lehrer als Brückenbauer
Was viele von der Schule darum zwingend fordern, nämlich Mut zum Antithetischen und Gegenläufigen, nimmt Thomas Ziehe auf. Der Pädagogik-Professor aus Hannover spricht von Überbrückungsarbeit zwischen den Schülerhorizonten und dem Bildungsauftrag der Schule. Darin bestünde eine der wesentlichen Aufgaben heutiger Lehrerinnen und Lehrer. Sich im Unterricht pädagogisch-didaktisch dominant an den subjektiven Eigenwelten der Jugendlichen orientieren, das könne nicht in die Zukunft führen – und darum dürfe die unmittelbare Relevanz des Gelernten im Alltag nicht der alleinige Fokus sein. Im Gegenteil: Schule muss kulturelle Gegenwelten aufzeigen und an anspruchsvollen Inhalten formale Lern- und Denkgewohnheiten schulen. Ziehe spricht von wohldosierten Fremdheiten.
Das gilt auch für die Sprache. Die Schule muss üben und einfordern, was manchen Schülern äusserst schwerfällt: bei einer Textlektüre logische und argumentative Strukturen herausarbeiten, Kernaussagen festhalten und Wichtigkeitshierarchien rekonstruieren. Das sind Schlüsselschwierigkeiten. Gefragt ist darum Überbrückungsarbeit zwischen der Eigenwelt der Schülerinnen und den Ansprüchen einer kommunikativ verdichteten Gesellschaft. Der Sprache kommt ein zentraler Rang zu – in Wort und Schrift. So ist Sprachfähigkeit nicht eine, sondern – neben Mathematik – die Kernkompetenz schlechthin.
Diese Primärkompetenz dürfte noch wichtiger werden; denn die Welt wird zunehmend komplexer. Zunehmende Komplexität aber verlangt erhöhte Präzision und Nuancierung. Wenn Berufsleute nicht mehr Deutsch können, entgleitet ihnen ein Teil der Wirklichkeit. „Wie sollen sie die feinen Differenzen benennen, auf die es in der Welt ankommt wie auf die feinen Gifte in den Heilmitteln, wenn ihnen der Wortschatz fehlt, die Syntax verkümmert und schon ein Konjunktiv sie nervös macht?“, wie der Literat Peter von Matt zu bedenken gab.
Wer in Deutsch gut ist, lernt besser Englisch
Wie wichtig Deutsch ist, zeigt auch eine neue Langzeitstudie der Universität Zürich mit 200 Gymnasiastinnen und Gymnasiasten. Die Lese- und Schreibkompetenz in der Erstsprache beeinflusst das Lernen einer Fremdsprache stark. Wer Deutsch gut liest und schreibt, kann diesen Vorteil auf die Fremdsprachen übertragen – unabhängig vom Zeitpunkt des Lernbeginns oder vom biologischen Alter, resümiert die Studie. Salopp formuliert: Schlechtes Deutsch zieht imperfektes Englisch nach sich. Wer in einer englisch dominierten Welt sprachlich mithalten will, muss zuerst in seiner Muttersprache den Meister machen.
Und noch etwas geht aus der Studie hervor: Der frühe Fremdsprachenunterricht zahlt sich weniger aus, als bis anhin angenommen; kurzfristig kann er die Erstsprache auch negativ beeinflussen.
Den Zugang zur Muttersprache öffnen
Ein Ding richtig können, ist mehr als Halbheiten im Hundertfachen. Der Satz geht auf Goethe zurück; er gilt noch heute. Nicht vielerlei treiben, sondern eine Sache intensiv und genau! – Non multa, sed multum!, heisst es bei Plinius. Darum muss sich die Schule beschränken. Sie kann nicht alles und müsste vor allem eines grundlegend: an Texten und Gegenständen Sprache schulen, Gelesenes in Worte und Sätze fügen, Inhalte resümieren und sie in einen Kontext bringen, Wesentliches artikulieren und Querbezüge formulieren.
Hier lässt sich die Kraft zur Präzision, zur Nuance, zum Begriff trainieren; hier lassen sich Gesichtspunkte unterscheiden, verbinden, einordnen. Je üppiger die Datenmeere, desto wichtiger die Gesichtspunkte. Kriterien und Standpunkte sind keinem Netzwerk zu entlocken; sie wollen im Unterricht geschult und logisch verknüpft werden. Das ist der Zugang zur diskursiven Sprache.