In seiner Abschiedsvorlesung an der Universität Bern rechnet der Historiker André Holenstein mit einem Geschichtsbild ab, das noch immer die politische Debatte über die Rolle der Schweiz in der Welt prägt. Seine Argumente sind stark, wenn auch ein wenig einseitig.
«Wer in der Schweiz aufwächst, saugt es mit der Muttermilch auf: Im Grundsatz gibt es zwei Länder, die Schweiz und das Ausland. Das Ausland ist gross und problembeladen. Die Schweiz ist schön und gut. Dummheiten machen nur die andern. Wir hier in der Schweiz, wir wissen, wie es geht. Wir haben es am Morgarten gewusst, wir haben es in Murten gewusst. Wir haben es in den Weltkriegen gewusst, und wir wissen es immer noch.»
So hat der Schriftsteller Pedro Lenz nur leicht überspitzt das schweizerische Selbstverständnis beschrieben. Und der Historiker André Holenstein zitiert ihn in seiner Abschiedsvorlesung an der Universität Bern, die jetzt in einer überarbeiteten Fassung in der jüngsten Ausgabe der Schweizerischen Zeitschrift für Geschichte erschienen ist.
Überholte Nationalgeschichte?
«1848 und die Schweiz: Zur Geschichte und Erinnerung einer unwahrscheinlichen Integration»: Der Titel von Holensteins Ausführungen lässt zunächst wenig ahnen von der politischen Brisanz seiner Analyse. Er stellt ihr ein beherztes Plädoyer für eine Nationalgeschichtsschreibung voran, obschon dieses Unterfangen «quer zu den gegenwärtigen Trends der Geschichtswissenschaft» stehe. Denn: «Nationalgeschichte gilt als überholt und – schlimmer noch – als anrüchig, hat doch der Nationalismus in den letzten 200 Jahren der Welt viel Leid und Elend beschert.» Nur geht es uns mit dem Nationalismus wie mit dem Krieg: Regelmässig werden sie für Auslaufmodelle gehalten und erheben doch schon bald wieder ihr bedrohliches Haupt. Wie jetzt gerade in der Ukraine und im Nahen Osten.
Dass es sich gerade in der Schweiz sehr lohnt, dieses Nationale vertieft zu studieren, das demonstriert André Holenstein dann, indem er am Beispiel der Revolution von 1848 Geschichtswirklichkeit und Geschichtsbilder nebeneinanderstellt. Da zeigt sich dann, warum die Eindrücke von Pedro Lenz keineswegs nur eine Privatmeinung sind. Es falle den Schweizern schwer, «die Mitte zu halten zwischen Minderwertigkeitsgefühl und Selbstüberschätzung als Kompensation der Schwäche und Kleinheit», zitiert Holenstein etwa den Volkskundler Richard Weiss. Und fügt noch ein mahnendes Wort des Historikers Herbert Lüthy hinzu: «Es ist gefährlich, wenn Geschichtsbewusstsein und Geschichtswahrheit, und damit auch Staatsbewusstsein und Staatswirklichkeit so weit auseinanderrücken, dass wir von uns selbst nur noch in Mythen sprechen können.»
Keine Absicht, einen gemeinsamen Bund zu bilden
Zum Beweis für dieses Auseinanderklaffen von Geschichtsbild und Geschichtswahrheit greift André Holenstein weit zurück. Er beschreibt, wie sich im Verlauf des 13. bis zum frühen 16. Jahrhundert am nördlichen Abhang des Alpenbogens eine komplexe Landschaft aus mehreren Bündnissystemen herausbildet, das «Corpus helveticum», und zwar ohne die Absicht, gemeinsam einen Bund zu bilden. Einige dieser verbündeten Glieder des Heiligen Römischen Reiches sind erfolgreiche Eroberer, und so kommen die habsburgischen Besitzungen im Aargau (1415) und im Thurgau (1460), das mailändische Tessin (1512) und die savoyische Waadt (1536) als gemeinsam verwaltete Untertanengebiete hinzu.
Die Lage ist günstig: Zum einen kontrollieren die Verbündeten wichtige Alpenpässe, zum andern bilden sie einen Puffer zwischen den rivalisierenden Grossmächten Frankreich und Habsburg. Spektakuläre militärische Erfolge machen das «Corpus helveticum» zudem als Söldnermarkt zu einem attraktiven Allianzpartner. Was das bedeutet, fasst Holenstein so zusammen: Nicht der Wille zu einem gemeinsamen Staat, wie er noch heute in 1.-August-Reden beschworen wird, sondern «das gemeinsame Interesse der einzelnen Orte an der Wahrung eines Maximums an Autonomie (Souveränität) und an der Sicherung des Ressourcentransfers von innen (Untertanengebiete) und von aussen (verbündete Potentaten) zu den regierenden Machteliten der regierenden Orte stifteten den Zusammenhalt der Orte».
Es ist ein sehr fragiler Zusammenhalt, denn das Tagesgeschäft beherrschen Differenzen und Konflikte, von denen der konfessionelle Graben der wohl gewichtigste ist.
Schrittmacher Napoleon
In diese – vom Geist der Französischen Revolution schon zuvor in Unruhe versetzte – Welt bricht 1798 Napoleon mit seinen Truppen ein. Sie erobern die Schweiz, Napoleon verordnet ihr zunächst einen Zentralstaat und vermittelt dann, 1803, eine föderalistische Neuordnung. Sie bringt den ehemaligen Untertanengebieten und zugewandten Orten die Aufwertung zu vollgültigen Mitgliedern, lässt die Kantone Aargau, Thurgau, Waadt, St. Gallen und Tessin entstehen und Graubünden dazustossen. 1815 kommt nach dem Zusammenbruch des napoleonischen Systems der nächste Schritt: Am Wiener Kongress garantieren die Siegermächte die Unabhängigkeit der Schweiz, sie erweitern den Staatenbund um Neuenburg, Wallis und Genf, und sie verordnen ihm eine «immerwährende Neutralität». Die neue europäische Sicherheitsarchitektur benötigt diesen ruhenden Pol in ihrer Mitte.
Wieder sind es hier fremde Mächte, die Regie führen. Und sie tun es ein letztes Mal 1847 – indem sie nicht eingreifen, als sich jener Konflikt anbahnt, der im Jahr darauf zur Bildung eines Bundesstaates und der damit verbundenen staatlichen Fundamentalmodernisierung führt. Zu sehr sind die reaktionären Mächte, insbesondere Österreich-Ungarn, gerade damit beschäftigt, die revolutionären Bewegungen in ihren eigenen Ländern niederzuwerfen.
Die Schweiz ist auch abhängig
Aus dieser Herleitung zieht André Holenstein ein Fazit, das doch einigermassen abweicht von dem, was sich in 1.-August-Reden insbesondere aus dem Mund von Vertretern der SVP bis heute beharrlich hält. «Ausländische Mächte haben für die revolutionäre Transformation des Corpus helveticum zur modernen Schweiz mehr geleistet als diese selbst.» Mag sein, dass er da zu sehr ausblendet, was sich im Innern aus einer stetig wachsenden Schicht liberal gesinnter Bürger an Druck aufbaut, und was dann, nach 1848, zu jener geradezu stürmischen Modernisierung führt, die Joseph Jung in «Das Laboratorium des Fortschritts» (NZZ Libro) materialreich beschrieben hat.
Dennoch gibt es an Holensteins Schlussfolgerung wenig zu deuteln. Die Schweiz, die sich im Innern so gerne als isolierten Akteur der Weltpolitik inszeniert, ist weit stärker mit dieser Welt verflochten, als es ihre Sonntagsredner zugeben. Mehr noch: Sie ist von dieser Welt auch abhängig. Dass sie immer wieder auch Glück gehabt hat – zuletzt in den beiden Weltkriegen –, das vermag diese Grundtatsache des nur im Austausch mit seiner Umwelt prosperierenden Kleinstaats nicht zu korrigieren.
Leider aber, merkt André Holenstein an, «wirken in der aktuellen politischen Debatte der Schweiz Geschichtserzählungen, die sich die Vergangenheit des Landes entlang der Leitkategorien Freiheit, Unabhängigkeit, Souveränität und Selbstbestimmung herrichten. Sie täuschen darüber hinweg, dass die Schweiz die Geschichte einer unwahrscheinlichen Integration ist und sie diese nicht als eigene Leistung verbuchen kann, sondern massgeblich anderen zu verdanken hat».
Quelle: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Nr.73/3, Schwabe-Verlag