Die Kollegenschelte ist hart: Die meisten Korrespondenten in Moskau würden Kreml-Astrologie alten Stils betreiben. Anstatt nach Krasnodar oder Wladiwostok zu gehen und dort zu leben, wo sie über ein ganz anderes Russland berichten könnten, begnügtensich die Journalisten in ihren Moskauer Büros mit dem Sammeln von Fakten und Zitaten, „zweitverwertet“ aus russischen Medien, der Presse, Online-Ausgaben oder Nachrichtenportalen.
Der Vorwurf
Zu diesem Urteil gelangen Moritz Gathmann und Stefan Scholl, die als Freelancer für deutsche Medien über Russland berichten. Gathmann und Scholl schrieben längere Zeit in der russischen Provinz. Sie sind überzeugt, dass sie von dortüber das Leben der russischen Bevölkerungbesser berichten konnten als die in Moskau stationierten Kollegen „die gelegentlich einen Abstecher für eine fällige Reportage über Terrorismus und staatliche Repression im Nordkaukasus machen und dann nach Moskau zurückfliegen, wo sie für ein Abendessen mehr ausgeben, als ein Arbeiter oder Arzt in der Republik Tschuwaschia monatlich verdient.“
„Diese Art von Berichterstattung,“ so der Befund der beiden, „liesse sich auch in einem mit Internet ausgestatteten Arbeitszimmer auf den Seychellen bewerkstelligen, aber doch zumindest an einem angenehmeren Ort als der russischen Hauptstadt.“
"Schlichter Unfug"
Das sei unfair undfalsch, entgegnet der Ausland-Chef des„Spiegels“, Christian Neef. Der langjährige Moskau-Korrespondent vermutet, die beiden Kritiker hätten ihre Korrespondententätigkeit nicht aus politischer Einsicht sondern aus ökonomischen Gründen in die Provinz verlegt. Denn im teuren Moskau können nur noch festangestellte Korrespondenten grosser Redaktionen überleben. Für die Berichterstattung ist laut Neef aber die Tatsache von grösserer Bedeutung, dass russische Politik wie zu Sowjetzeiten intransparent geblieben sei. So seien die Moskau-Korrespondenten monatelang gezwungen gewesen, sich mit den Spekulationen über das Tandem Medwedew - Putin zu beschäftigen.
Nach der Logik von Gathmann und Scholl hätte der Ausweg darin bestanden, „sich am nächsten Bahnhof ein Ticket in die Provinz zu lösen und die Entscheidungen dort abzuwarten.“ Zu behaupten, die Korrespondenten reisten nicht mehr ins weite Land, sei „schlichter Unfug“, entgegnet Neef. Es vergehe kein Monat, ohne dass einer der Spiegel –Korrespondenten ein- oder mehrmals in die russische Provinz reise. Neef gibt allerdings zu, Moskau sei inzwischen die teuerste Spiegel-Vertretung im Ausland.
Teures Pflaster Moskau
Die Debatte – sie ist in der Zeitschrift „Osteuropa“ vom Oktober 2011 und vom Januar 2012 dokumentiert –könnte man vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse in Russland weiter führen. Die Korrespondentenhaben überdas unerwartete Phänomen der Massenprotestein Moskau ausführlich berichtet -oft zu begeistert . Denn nach den Wahlen mussten viele etwas ratlos zur Kenntnis nehmen, dass trotz Manipulationen Putin schon im ersten Wahlgang wieder gewähltworden war–und zwar von Wählernausserhalb Moskaus im Russlandder Provinz.
Hinter Scholls und Gathmanns Plädoyer für eine andere Berichterstattung verbirgt sich noch eine andere Tatsache.„Freie“ Journalisten sind heute der billige Ersatz für festangestellte Auslandkorrespondenten geworden, die sich die Chefs von Qualitätsmedien nicht mehr leisten wollen.
Roman Berger war 1991-2001 Moskau-Korrespondent des „Tages Anzeigers“. Der Text erschien in der „Wochenzeitung“ vom 22. März 2012