Der aus Ton geformte Kopf ist in schwungvollen Pinselstrichen bemalt: Locken, schwungvoll gezogene Augenbrauen, blutroter Mund. Zu sehen ist er im Nidwaldner Museum in Stans, das Annemarie von Matt (1905–1967) eine grosse Ausstellung widmet. Der Kopf ist nicht nur bemalt, sondern auch mit geheimnisvollen, kaum deutbaren Texten versehen: „Sie singt AVE“, ist „Nicht AnsprechBAR“ und „unhörbar“.
Annemarie von Matt, die sich keiner Stilrichtung und keinen Trends zuordnen lässt, erlernte das Goldschmiede-Handwerk, wurde Künstlerin mit Aktivitäten in Grafik und populärer Sakralkunst, entwarf stilvolle Souvenirs für Touristen und erhielt einige öffentliche Aufträge. 1935 heiratete sie den angesehenen und erfolgreichen Stanser Maler und Plastiker Hans von Matt, der die junge Frau in die Innerschweizer Kunstwelt einführte. Bald allerdings entwickelte sie, abseits herkömmlicher Gattungen wie Malerei und Skulptur, ihre ganz eigene und unverwechselbare Kunstsprache, die sich vom biederen Spätklassizismus von Hans von Matt extrem abhob. Sie widmete sich vor allem der Objektkunst, dem bearbeiteten Objet trouvé, meist mit ganz direkten Bezügen zu ihrer eigenen intimen Gefühls- und Erfahrungswelt. Sie äusserte sich in feinsinnigen Zeichnungen und bereicherte ihre Arbeiten mit Texten, Aphorismen, kurzen Notizen oder ganzen Gedichten. Integraler Bestandteil ihres Werkens sind mit Zeichnungen, Ornamenten und Arabesken versehene Liebes- und andere Briefe. Mit den Jahren zog sie sich, geplagt von Krankheiten, zurück in ihr Haus und pflegte kaum mehr direkten Kontakt zur Aussenwelt. Als sie 1967 starb, hinterliess sie ein Haus voller wunderlicher Dinge, voller Zettel und Objekte, die sich, wie die Künstlerin selbst, keiner Ordnung fügen wollten.
Ihr Gatte Hans von Matt erschloss ihren Nachlass, publizierte eine erste Monographie über die Künstlerin, deren Schaffen der Luzerner Galerist Beni Raeber 1973 in einer Ausstellung präsentierte. Fortan gehörte sie dazu, wenn immer Kunst aus der Innerschweiz thematisiert wurde, was in den 1970er Jahren als Folge zunehmenden Interesses an Mentalitätsräumen häufig geschah. Post mortem wurde ihr gar Kultstatus zuteil – in Verbindung mit der begrifflich sehr diffusen „Innerschweizer Innerlichkeit“, aber auch mit dem damals neu aufkeimenden Interesse an Outside-Kunst. Unter diesem Etikett versammelte Fritz Billeter 1980 in einer Publikation eine sehr heterogene „Familie“, zu der er u. a. Robert Strübin, Walter K. Wiemken, Louis Soutter, Emma Kunz, Johann Robert Schürch und eben auch Annemarie von Matt zählte.
Amulette und Talismane
Die von Patrizia Keller vom Nidwaldner Museum in Zusammenarbeit mit der Kantonsbibliothek Nidwalden kuratierte Ausstellung präsentiert das Kunstschaffen von Annemarie von Matt von den 1930erJahren bis in die 1960er Jahre. Sie setzt ein mit Madonnendarstellungen, Collagen und textilen Arbeiten. Am meisten Gewicht aber haben Objekte, Zeichnungen, Briefe und Zettel. Die Objekte sind mitunter von geheimnisvoll-dunklem oder magischem Charakter und lassen an Alchemie und Zauber, an Amulette oder Talismane denken. Beispiel dafür ist ein Massstab, der in einem Kartonköcher steckt. Darauf ist notiert: „Merkur misst. Dieser ist ein Hexameter“, wobei sich durchaus auch „Hexenmeter“ mitdenken liesse.
Beispiele sind auch andere Objekte – ein Kettchen aus Poulet-Wirbeln oder Fläschchen mit der Aufschrift „Salz der Weisheit“. Den oben erwähnten Kopf schuf um 1940 Hans von Matt. Er blieb im Keller, bis Annemarie von Matt ihn 1961 zu sich nahm und als eine Art Selbstporträt veränderte und bemalte.
„widerstehlich“
Die kleinen Zettel, die Annemarie von Matt in grosser Zahl hinterliess, die sie als Botschaften an reale oder imaginäre Besucher an Atelier-Wände und an die Türe heftete, sind prägnante Formulierungen, die uns Betrachter staunen lassen: „widerstehlich“ lesen wir. Da ist kein „un“ vergessen, denn die Künstlerin treibt ihr eigenes Sprachspiel, zumal sie einen andern Zettel mit der Variante „widderstehlich“ versieht. Oder wir lesen: „ich wese ab“, „entweder bin ich abwesend“ oder, besonders eigenwillig: „weisst Du oder schwarzt Du?“ Manches wird zum Aphorismus: „Sich nicht entschliessen ist auch ein Entschluss“ oder „Ich tue nichts. Das nimmt meine ganze Zeit in Anspruch.“ Sprachspiel wird da zur Sprachkunst. Annemarie von Matt kann dabei mithalten mit den Besten dieser Sparte.
Das „Grossereignis“ Jselin und Dundas
Eine Zeichnung von bezaubernder Schönheit zeigt in feinen Strichen eine liegende nackte junge Frau mit schwarzen Locken, Augen wie schwarze Kirschen und leuchtend roten Wangen. In den Händen hält sie eine Perlenschnur, an der ein Täfelchen mit der Inschrift „JSELIN DUNDAS“ hängt.
Die Literaturkritikerin Beatrice von Matt-Albrecht erschliesst in einem ihrer Texte über die Künstlerin (eine Verwandte ihres Mannes) das rätselhafte Blatt: Annemarie von Matt war literarisch sehr interessiert, sie war belesen und informiert über das kulturelle Geschehen in Kunst und Literatur und verfügte über eine umfangreiche Bibliothek. Sie bewunderte Knut Hamsuns 1894 erschienenen Roman „Pan“, in dem eine verführerische junge Frau mit Namen Jselin vorkommt, ein Naturkind, im Wald bei Bären und Wölfen aufgewachsen. Ihr Freund ist Dundas.
Annemarie von Matt verwendete die Namen Jselin und Dundas als kryptische Hinweise auf ihr ganz persönliches Erleben. Die Zeichnung steht im Zusammenhang mit dem „Grossereignis“, wie sie es nannte: Der Priester, Lehrer und Schriftsteller Josef Vital Kopp ritt 1940 als Feldprediger in Stans ein, und sie verliebte sich in einem wahren Amour fou in den schönen Hauptmann. Die Affäre, die durchaus nicht einseitig blieb, zog sich mehr als zehn Jahre hin und wurde einer breiteren Öffentlichkeit erst lange nach Annemarie von Matts Tod bekannt. In Briefen an Kopp, dem sie auch wunderbare, an irische Ornamentik gemahnende Geburtstagsblätter zukommen liess, tauchen die Namen Jselin und Dundas auf: Gemeint sind Annemarie von Matt und Josef Vital Kopp. Die „Jselin“-Zeichnung hat Selbstporträt-Charakter.
Hoch emotionale Stürme prägten diese Beziehung. Dass sie sich schliesslich als ausweglos erwies, verletzte die Künstlerin zutiefst, wie wiederum Briefe belegen. (Ein überheblicher Josef Vital Kopp glaubte, bei ihr eine „schizoide Prägung“ feststellen zu müssen.) In den Erzeugnissen Annemarie von Matts der 1940er und 1950er Jahre finden sich viele verschlüsselte und zum sublimierten Kunstwerk mutierte Hinweise auf diese und andere Freundschaften. So sind in der Ausstellung zwei zu ähnlicher Zeit geschriebene und gleichgestaltete Falt-Briefe zu sehen – einer an Josef Vital Kopp, der andere an Hans von Matt gerichtet. Ein besonders phantasievoll ausgestaltetes Objekt, ein mit zarten Vogelfedern geschmücktes „Sublimiertes Herz“, war ein Geschenk an die Freundin Dora Troller. Ein anderes Herz, vielsagend, aus Stacheldraht geformt und mit einer Stoffblume versehen, liess sie einem Freund zukommen: Bitterer Trost in einem Liebeskummer?
Weibliches Freiheitsmanifest
Manch ein Deuter von Annemarie von Matts Werk und Leben bemühte tiefenpsychologische Argumentationsketten. Das ist verständlich, doch da öffnen sich Grauzonen. Spekulationen ohne genauen Hintergrund schiessen ins Kraut. Die Ausstellung im Nidwaldner Museum meidet solches Glatteis, verzichtet auf Interpretationen und überlässt den Besucher seinen persönlichen Eindrücken und Erlebnissen.
Was die Kuratorin Patrizia Keller sachlich-nüchtern an Anschauungsmaterial ausbreitet, wirkt wie das weibliche Freiheitsmanifest in einer Gesellschaftssituation, die auf dieses poetische Aufbegehren keine Antwort geben konnte. Aufkeimendes feministisches Selbstbewusstsein, bevor in ihrem Umfeld jemand davon sprach? Dadaistisches Spiel mit verborgenem Sinn und Unsinn ausserhalb des Dadaismus? Surrealismus weitab aller grossstädtischen Zentren? Wer sich die Zeit nimmt und sich auf diesen unterhaltsam-tiefsinnigen und mit Poesie und frischer Phantasie ausgestalteten Kosmos einlässt, muss – oder darf – die Antwort selber finden: Eine abenteuerliche Suche.
„Schwierig-unschwierig“
Welches Bild machten sich die Zeitgenossen in Stans von ihrer unangepassten und freiheitsliebenden Mitbürgerin und Nachbarin? Ein Freund der Künstlerin, Anton E. Müller, vor Jahren Konservator des Kunstmuseums Luzern, schloss seinen Text über die „schwierig-unschwierige“ Annemarie von Matt im Innerschweizer Almanach 1972 wie folgt: „Für Stans war Annemarie von Matt eine scheue, eigenwillige Frau, von der man nicht recht wusste, was sie Tag und Nacht tat. Wer aber sie und ihre Stube kannte, wusste, dass hier ein Mensch rastlos und in kosmischer Umfassenheit ein grossartiges Spiel spielte, das immer in die echten Tiefen aller Existenzmöglichkeiten reichte.“
Wer erstmals in diesen uferlosen Werkfluss einsteigt, ist unbelastet und frei in seiner Deutung. Das gilt auch von den zwischen 1979 und 1991 geborenen Künstlerinnen und Künstlern, die Patrizia Keller zur Auseinandersetzung mit von Matt einlud: Mathis Altmann, Sophie Jung, Judith Keller, Simone Lappert, Quinn Latimer, Céline Manz, Sam Porritt und Manon Wertenbroeck. Sie steuern Bild, Installation, Klang, Wort- und auch Konzeptkunst bei. Sie kommen Annemarie von Matt unterschiedlich nahe, verweisen mit ihren frisch-unbekümmerten Arbeiten aber doch nachdrücklich auf die Aktualität dieses Werkes.
- Nidwaldner Museum, Winkelriedhaus, Stans. Bis 2. August.
- Die Ausstellung wird im Herbst im Centre Culturel Suisse in Paris zu sehen sein.
www.nidwaldner-museum.ch