Nahe dem Pariser Café Flore am Boulevard Saint-Germain befand sich eine kleine Buchhandlung. Sie ist inzwischen abgebrannt. Ich kaufte dort einst einen Roman einer jungen Französin. Das Buch, eine dramatische, gut geschriebene Beziehungsgeschichte, gefiel mir. Die Kritiken waren gut. Später, als ich wieder in Paris war, erfuhr ich, dass die Autorin eine Lesung gab. Ich ging hin.
Die Frau war ein pures Ekel, vulgär, rassistisch, eine verkappte Lepenistin mit einem Hass auf Juden und Araber. Ihr neuer Roman wurde wieder von der Kritik gelobt. Ich weigerte mich, ihn zu lesen. Ich hätte immer an ihren Auftritt denken müssen.
Das Thema ist uralt. Soll man Kunst vom Künstler trennen? Soll man Kunst als eigenständig betrachten? Und: kann man das? Soll ich ein bewundernswertes Werk bewundern, wenn ich weiss, dass ein Ekel es fabriziert hat? Vielleicht sollte man das können, ich kann es nicht.
„Entjudung“
Diese Fragen haben jetzt neue Nahrung bekommen. Wie wurde Emil Nolde, der grosse deutsche Expressionist, gehätschelt und verehrt – er, mit seinen intensiven Farben und seinem typischen Nolde-Blau.
Dass Nolde Mitglied der NSDAP war, ist seit längerem bekannt, doch man glaubte, er sei einer der vielen Mitläufer gewesen. Jetzt aber findet in Berlin im Hamburger Bahnhof eine Schau statt, die ein anderes Bild vermittelt: Nolde war ein Super-Nazi, ein Judenhasser, mehr noch: Er übermittelte Hitler einen Plan zur „Entjudung“.
Als Folge dieser Enthüllung liess Angela Merkel zwei Nolde-Bilder in ihrem Büro abhängen. Die deutschen Medien sind sich nicht einig darüber, ob das richtig oder heuchlerisch ist.
Noldes Legende
Nolde hatte Glück. Seine Bilder wurden von den Nazis als „entartete Kunst“ verbannt. So brachte er nach dem Krieg die Legende in Umlauf, er sei kein Nazi gewesen und im Dritten Reich verfolgt und verschmäht worden. Fast alle glauben ihm das nur allzu gern: Schriftsteller, Kunsthistoriker, Museumsdirektoren und Politiker. Zu den Nolde-Schwärmern gehörten Helmut Schmidt – und eben auch Angela Merkel.
Es ist dem neuen Leiter der Nolde-Stiftung zu verdanken, dass jetzt die Wahrheit ans Licht kam. So wurde auch bekannt, dass Nolde keine biblischen Themen mehr malen wollte, weil er sich weigerte, Juden darzustellen. Auch wenn er mit einem Berufsverbot belegt wurde, liess er keine Gelegenheit aus, den Nazis die Stiefel zu lecken. Er hoffte auf baldige Anerkennung.
Die Biografie ausblenden?
Immer wieder haben kalte, grobe, teils grausame Menschen wunderbare Kunst geschaffen. Soll man nun ihre Kunst, unabhängig vom Künstler betrachten und werten? Ist ein Kunstwerk nicht etwas Eigenständiges, das sich vom Autor verselbständigt hat, wie dies einige Kunsthistoriker behaupten? Soll man das Leben des Künstlers beim Betrachten seiner Bilder einfach ausblenden? Oder soll man ein Kunstwerk auch nach den moralischen Qualitäten des Künstlers beurteilen? Die Diskussion zu diesem Thema polarisiert seit jeher.
Angela Merkel und Wagner
Natürlich ist bei Angela Merkels Nolde-Bashing auch Hypokrisie im Spiel. Die „Berliner Zeitung“ hat recht, wenn sie schreibt: Falls unsere Bundekanzlerin Nolde „wegen seines Antisemitismus nicht länger in ihrem Büro sehen will, sollte sie umgehend aufhören, alljährlich zu den Wagnerfestspielen nach Bayreuth zu wallfahren“. Nolde gehöre nun einmal zu Deutschland, auch wenn er Antisemit war – so, wie Wagner, Luther und Sauerbruch – und viele andere.
Und dennoch: Die Frage, die sich dem einfachen Museumsbesucher stellt, ist ganz einfach: Kann man jetzt Nolde-Bilder unvoreingenommen betrachten, verehren und für sie schwärmen, wie man es bisher tat? Es gibt Menschen, die das können. Ich kann das nicht.