Das Cover will offensichtlich originell sein. Ein Che Guevara-Gesicht blickt merkwürdig unbestimmt nach oben, auf dem schwarzen Haar liegt ein roter Apfel, auf dem roten Apfel prangt ein Schweizer Kreuz, der Apfel ist von einem von links abgeschossenen Pfeil durchbohrt. Dem Sujet lässt sich ein gewisser Symbolgehalt nicht absprechen. Beides, das „Vaterländische“ und das Revolutionäre trieben Harry Gmür (1908–1979) ein Leben lang um.
Aufgewachsen ist Harry Gmür in einer Villa in Bern, der Vater ein renommierter Professor, die Mutter eine Dame von Welt, man hat Personal, man ist vermögend, der Train de Vie grossbürgerlich. Gmür durchläuft die Schulen in der Bundesstadt, greift schon als Jüngling zur Feder, versucht sich in romantischen Gedichten. Nach Studien der Germanistik und Geschichte dissertiert er in Leipzig zum Thema „Thomas von Aquino und der Krieg“.
Der Bruch
Das war 1933, als er in Deutschland das Ende der Weimarer Republik, den Strassenterror und die Machtergreifung der Nazis erlebt. Gmür war nun nicht nur ein „Herr Dr.“, sondern seit drei Jahren auch schon Ehemann. Die Heirat mit der Jüdin Genrieta Esther versetzte seine Eltern nicht gerade in Begeisterung, weil man sie nicht als standesgemäss einstufte. Die Ehe war die erste, durchaus markante Distanzierung vom bernischen Grossbürger-Kosmos. Der radikale Bruch erfolgte nach seiner Rückkehr aus Deutschland.
In Zürich stürzte er sich mit Verve in den linken Kosmos. Er trat 1933 in die sozialdemokratische Partei ein, lancierte 1937 die kulturpolitische Zeitschrift ABC, die allerdings eine kurze Lebensdauer hatte. Weil die SPler für Gmürs revolutionären Impetus zu lau waren, schloss er sich den Kommunisten an und gehörte 1944, nachdem die KP Schweiz 1940 verboten worden war, zu den Gründern der Partei der Arbeit. Für sie sass er im Zürcher Gemeinderat und leitete das Parteiblatt „Vorwärts“. Ende der 1950er Jahre, nach einem Absturz in den Alkohol, fing er sich dank der Ostberliner „Weltbühne“ wieder auf. Diese Zeitschrift beauftragte ihn mit grossen Reportagen, die er aus zahlreichen Ländern (unter Pseudonym) schrieb.
Gmür hinterliess nicht nur ein umfangreiches Schrifttum (Artikel, Romane, Essays), er hinterliess auch viele Spuren bei den Behörden. Im Kalten Krieg wurden Leute wie er überwacht, schikaniert, ausgegrenzt, angezeigt, fichiert, manchmal verhaftet.
Mit scharfem Blick und spitzer Feder
Ein Teil dieses Schrifttums liegt nun in Buchform vor. Man erlebt einen Gmür, der mit scharfem Blick das Elend der Arbeiterschichten in Paris oder Grenada schildert, ihre miserablen Wohnverhältnisse, ihre lächerlich geringen Löhne, die ausbeuterischen Kapitalisten, nach denen die bürgerlichen Regierungen zu tanzen haben. Einen Gmür, der im fernen Tanganjika Präsident Nyerere interviewt und befriedigt feststellt, dass die afrikanische Vorstellung von Demokratie einer echten sozialistischen Konzeption nähersteht als dem antiquierten Ideal westlicher Klassengesellschaften. Die DDR beurteilt Gmür 1965, vier Jahre nach dem Mauerbau, als Garantin für die Existenz der Schweiz, weil sie den Kriegstreibern und Faschisten in Westdeutschland das Handwerk für alle Zeiten gelegt und damit deren Gefährlichkeit auch für die Nachbarn gebannt habe.
Mit besonders spitzer Feder seziert Gmür die politische Landschaft seines eigenen Landes vor, während und nach dem Krieg. Mit seiner Kritik an der bundesrätlichen Politik und den Sympathien bürgerlicher Kreise für Franco, Hitler, Mussolini hat er gewiss Recht. Allerdings suggerieren seine Analysen, es habe zwischen den aufrechten Kommunisten und der anpassungswilligen Bourgeoisie ausser den Fröntlern praktisch niemanden mehr gegeben, keinen tragenden Mittelstand, keine „normalen“ Leute, die, statt irgendwelchen Visionen oder Heilsversprechen zu glauben, ganz einfach auf ihr eigenes Kopfwerkzeug setzten: Verstand & Vernunft. Dabei war es gerade diese Schicht (oder „Klasse“), der es das Land hauptsächlich verdankt, dass es jene schwierige Phase relativ gut überstand.
Der einäugige Weltenrichter
Die „Reportagen von links“ sind ein Zeitdokument und als solches durchaus interessant. Sie zeigen, in welch absoluten Kategorien damals gedacht und geschrieben wurde und auf welche Abwege ideologische Versteinerung auch die hellsten Köpfe katapultieren konnte. Gmür findet sich diesbezüglich in illustrer Gesellschaft, etwa mit Lion Feuchtwanger, Jean-Paul Sartre, Bernhard Shaw oder Edouard Herriot, der auf Einladung Stalins 1933 die Ukraine besuchte, als die vom Diktator gesteuerte Hungersnot zwecks Ausmerzung der Kulaken ihren Höhepunkt erreicht hatte. Seinem Heimpublikum berichtete der französische Spitzenpolitiker: „Ich kann Euch versichern, dass ich einen Garten in voller Blüte gesehen habe.“
An Gmürs Kampf gegen den Faschismus ist nichts auszusetzen. Nicht nachvollziehbar ist aber sein totales Schweigen über die prekären Lebensverhältnisse in der kommunistischen Welt und vor allem über die monströsen Verbrechen, die die Machthaber im Namen der von ihm getreulich mitgetragenen Ideologie an Millionen von Menschen begangen haben.
Man fragt sich, weshalb die Herausgeber sich nicht dazu aufraffen konnten, Gmürs Wirken einer kritischen Einordnung zu unterziehen. Mit dem Vorwort von Jean Ziegler, der den „Unbeirrbaren“ wortreich zum Helden stilisiert, ist es definitiv nicht getan. So muss man, um das neue Buch besser zu verstehen, zu einem älteren greifen. 2009 gaben die beiden Historiker Markus Bürgi und Mario König eine Biografie über Gmür (Bürger, Kommunist, Journalist) heraus. Sie versuchten ernsthaft, dem Rätsel auf den Grund zu kommen: Glaubte Gmür unerschütterlich und bis zu seinem Lebensende an die Verheissungen seiner Ideologie?
Interessant ist die Antwort, die Gmürs Sohn Mario, ein bekannter Psychiater in Zürich, den Autoren damals auf diese Frage gab. Seinem Vater sei das Scheitern seiner politischen Vision vermutlich bewusst gewesen, ein öffentliches Eingeständnis sei jedoch nicht in Frage gekommen; denn seinen Kommunismus abzumildern oder sich gar von ihm abzukehren, wäre für ihn einem feigen anpasserischen Opportunismus gleichgekommen.
Im Grunde findet man die Antwort bei ihm selber – in seiner Reportage über Dürrenmatts Wiedertäufer (1967). Theaterrezensent Gmür beurteilte die Täuferfiguren im Stück zwar als ehrenwerte Kämpfer für soziale Gerechtigkeit, meinte aber, diese lebten „in ihrem verstiegenen Idealismus dermassen an der Realität vorbei, dass sie selbst ein nicht zu knapper Teil Schuld an ihrem Scheitern trifft“.
Harry Gmür: Reportagen von Links. Vier Jahrzehnte Kampf gegen Faschismus und Kolonialismus. Europaverlag 2020, 336 Seiten,
ca. Fr. 38.–