Der Iran wird gebraucht und die Welt hat andere Sorgen. Zugleich lässt Rouhani seinen Charme spielen. „Kein einziges Mal hat er sie gesehen, auch am letzten Tag nicht, als der Präsident nach vier Tagen Aufenthalt sein Luxushotel durch eine Hintertür frühzeitig verliess. Dabei war sie kaum zu übersehen, sie war die ganze Zeit da, nicht einmal zwei Meter von ihm entfernt.“
Das schreibt ein BBC-Reporter, der Hassan Rouhanis Visite in New York und seinen Auftritt vor der UN-Generalversammlung bis zum vergangenen Dienstag praktisch rund um die Uhr beobachtete. Resigniert fügt der Journalist hinzu, es habe wohl niemand für nötig gehalten oder gewagt, den iranischen Präsidenten über seine unmittelbare Nachbarin zu befragen. Und auch der Reporter, der das schreibt, tut dies nicht. Er darf es nicht, denn er ist Iraner. Und Fragen eines iranischen Journalisten, der für ein ausländisches Medium arbeitet, werden von reisenden iranischen Politikern grundsätzlich nicht zugelassen.
Symbol des Widerstands
Bei der Nachbarin des Präsidenten handelte sich es um keine wirkliche Person, sondern um ein überdimensionales Bild der Studentin Bahareh Hedayat. Das Bild hing während des viertägigen Aufenthalts Rouhanis in einem Fenster unweit seiner Suite. Die heute dreissigjährige Iranerin wurde 2009 wegen Beleidigung des iranischen Revolutionsführers zu sieben Jahren Haft verurteilt. Als sie Ende August dieses Jahres nach der Verbüssung ihrer Strafe entlassen werden sollte, teilten ihr die Behörden mit, sie müsse weitere zwei Jahren im Gefängnis bleiben.
„Du musst wahrscheinlich noch Jahre auf mich warten, es liegt eine alte Bewährungsstrafe wegen Teilnahme an einer Demonstration vor“, schrieb sie ihrem Ehemann. Bahareh war aktives Mitglied der Kampagne für „1 Million Unterschriften gegen Frauendiskriminierung“.
Die Gnadenlosigkeit der Behörden in ihrem Fall rührt wahrscheinlich daher. Wegen langer Einzelhaft und qualvoller Vernehmungen leidet die zarte Studentin nach Informationen von Amnesty International inzwischen an verschiedenen Krankheiten. Dennoch ist sie für ihr selbstbewusstes Auftreten bekannt und gilt als Symbolfigur der iranischen Frauenbewegung.
Ein Autor, seine Geschichte und seine Befürchtungen
Ein Leidensgenosse Hedayats war in den Tagen der UN-Generalversammlung persönlich in New York. Er heisst Maziar Bahari und ist ein lebender Beweis für den Umgang der Teheraner Machthaber mit Journalisten und für die grauenhaften Zustände in iranischen Gefängnissen. Der 48-jährige persisch-kanadische Reporter und Filmemacher berichtete aus Teheran für die Zeitschrift Newsweek, als am 21. Juni 2009, wenige Tage nach der umstrittenen Wiederwahl des damaligen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad, Revolutionsgardisten seine Wohnung stürmten und ihn ins berüchtigte Evin-Gefängnis brachten.
Baharis Erlebnisse waren vom Beginn seiner Verhaftung an so grausam und so zermürbend, dass er nach wenigen Wochen im staatlichen Fernsehen auftrat und alles zugab, was man von ihm wollte: vor allem, dass westliche Journalisten mehrheitlich Spione seien. Erst nach diesem erzwungenen öffentlichen Geständnis und nach vielen internationalen Protesten kam er frei und konnte das Land verlassen. In seinem 2011 erschienenen Buch „Then They Came for Me“ (dt.: „Dann kamen sie wegen mir“) versucht er, seine Hafterfahrungen zu verarbeiten.
Diese Erlebnisse verwandelten den international anerkannten Autor und Filmemacher in einen unermüdlichen Menschenrechtsaktivisten, der seitdem jede Gelegenheit nutzt, um auf die Lage inhaftierter Kollegen aufmerksam zu machen. Iran ist nach Angaben von „Reporter ohne Grenzen“ eines der grössten Gefängnisse für Journalisten und Blogger weltweit.
Mit einem „Painting Projekt“ auf den Mauern von New York und New Jersey hoffte Bahari, die Mächtigen dieser Welt auf ihrem Weg zur UN-Sitzung über die Menschenrechtssituation im Iran informieren zu können. Er habe sich zu diesem Projekt entschlossen, weil ihn dieser Tage ein merkwürdiges Gefühl beschleiche, eine sorgenvolle Ungewissheit, die er öffentlich machen wolle, sagt Bahari.
Flexibilität nach aussen
Wird die Islamische Republik nach dem Atomabkommen in der Innenpolitik repressiver? Ja, fürchtet Bahari und ist damit keineswegs allein. Es gibt viele politische Beobachter, die diese Frage ebenfalls bejahen und prophezeien, dass auch diesmal der Flexibilität nach aussen die Härte nach innen folgen wird – so wie immer in der Geschichte der Islamischen Republik.
Das markanteste Beispiel, das immer noch nachwirkt, sind die Ereignisse nach dem Ende des achtjährigen Krieges mit dem Irak. Es mag für Aussenstehende seltsam klingen, doch innenpolitisch gesehen sind die beiden Ereignisse – Atomabkommen und Kriegsende – sehr ähnlich. Auch damals folgte dem Nachgeben nach aussen eine gnadenlose Härte nach innen.
Als der mittlerweile verstorbene Revolutionsführer Ayatollah Ruhollah Khomeini endlich den lang ersehnten Waffenstillstand akzeptierte und der achtjährige Krieg zu Ende ging, kam es zu einer beispiellosen Welle der Repression im Iran. Wenige Wochen nach Kriegsende begaben sich drei Geistliche, ausgestattet mit einer handschriftlichen Notiz Khomeinis, in verschiedene Haftanstalten und liessen über 6'000 gefangene Gegner hinrichten. Einer aus diesem Trio, Mostafa Pour Mohammadi, sitzt heute als Justizminister in Rouhanis Kabinett.
Rouhani gesteht seine Machtlosigkeit
Doch in New York präsentierte sich Rouhani als Mann der Mässigung, der Öffnung und als möglicher Koalitionspartner gegen den IS-Terror. Seine Charmeoffensive war gefragt und er spielte sie gekonnt aus, denn in diesen Tagen sucht die Welt Verbündete, auch wenn es die Herrschenden in Damaskus und Teheran sein sollten. Alles andere, Geschichtliches oder Aktuelles, sind nur störende Randnotizen.
Angesicht der zerfallenden Staaten im Nahen Osten liegen die Prioritäten der Weltpolitik woanders als bei Menschenrechten im Iran. Bei seinen Auftritten in New York wurde der Präsident nur selten mit dem lästigen Thema behelligt. Als ein CNN-Reporter ihn fragte, ob und wann Jason Rezaian freikäme, der seit über einem Jahr im Iran inhaftierte Korrespondent der Washington Post, schlug Rouhani einen Austausch mit 17 Iranern vor, die in den USA inhaftiert sind: „Wenn die Amerikaner angemessene Schritte ergreifen und sie freilassen, werden damit sicherlich das richtige Umfeld und die richtigen Umstände für uns geschaffen, alles in unserer Macht und unserem Zuständigkeitsbereich Stehende zu tun, um schnellstmöglich auch Freiheit für die im Iran gefangengehaltenen Amerikaner zu erwirken“, so der Präsident umständlich.
Mit anderen Worten kommt Rezaian, von dem man nicht weiss, was ihm eigentlich vorgeworfen wird, erst frei, wenn Rouhani mit vollen Händen nach Hause zurückkehrt. Rouhani, der einen englischen Doktortitel der Juristerei besitzt und bei jeder Gelegenheit betont, er sei ein Mann des Rechts, zeigt in diesem CNN-Interview nicht nur sein merkwürdiges Rechtsverständnis, sondern auch die Grenzen seiner Macht beziehungsweise seine Machtlosigkeit.
Hat die befürchtete Zukunft begonnen?
Die zahlreichen Geheimdienste, die bewaffneten Sicherheitsapparate und die Justiz, also jene Institutionen des Iran, die sich mit tatsächlichen oder vermeintlichen Gegnern befassen, agieren nach eigenem Ermessen, sie entscheiden selbst, wann und wie sie jemanden verhaften.
Der 21. September war im Iran der Beginn des neuen Schuljahres, Präsident Rouhani stand kurz vor seiner Abreise nach New York, als alle Vorstandsmitglieder der Lehrergewerkschaft, die sich noch in Freiheit befanden, verhaftet wurden. Auch wurden die Gefängnisstrafen von zwei bereits verurteilten Vorstandsmitgliedern erhöht. In diesem Jahr stehen zwei wichtige Wahlen an – je näher sie kommen, umso aktiver werden diverse Geheimdienste.
Für sie habe der Wahlkampf eigentlich bereits begonnen, schreiben viele Blogger und die seriöse Webseite Rooz. Innerhalb von fünf Tagen meldeten Menschenrechtsaktivisten Dutzende Festnahmen aus verschiedenen Teilen des Landes, so die Webseite. Rooz spricht von einer Welle, die bereits rollt.
Jahrestag der Säureattacken gegen Frauen
Rouhanis eigentlicher Auftrag als Präsident sei, Atomverhandlungen in einem eng abgesteckten Rahmen durchzuführen – nicht mehr und nicht weniger. Das sagte Mohssen Renani, Professor an der Universität Isfahan. Ende August hatte der anerkannte Ökonom eine heikle Aufgabe. Man hatte den 50-Jährigen gebeten, zum Jahrestag der Säureattacken gegen Frauen auf einer Veranstaltung in Isfahan zu sprechen.
Genau vor einem Jahr waren in der historischen Stadt, die ein bevorzugtes Ziel ausländischer Touristen ist, sechs Iranerinnen mit Säure angegriffen worden. Diese Attacken, deren Urheber unter den radikalen Anhängern des örtlichen Freitagspredigers vermutet werden, sorgten damals im ganzen Land für so grosses Aufsehen, dass Präsident Rouhani drei seiner Minister beauftragte, die Affäre so bald wie möglich zu klären.
Geschehen ist bis heute jedoch nichts. Obwohl die Behörden mehrmals die baldige Festnahme der Attentäter meldeten, warten die schwer verletzten und entstellten Opfer immer noch auf Gerechtigkeit. Am Jahrestag dieser grauenhaften Angriffe sollte Renani auf Einladung der Angehörigen der Opfer über die gesellschaftlichen Folgen der Säureattentate referieren. In seiner Rede, die er auf seiner Webseite veröffentlichte, mahnte der Ökonom den Präsidenten eindringlich und fordert ihn auf, schon aus Eigeninteresse das Ereignis ernstzunehmen: „Sie werden die Früchte Ihres Erfolgs bei der Atomverhandlung nicht ernten können, wenn Sie sich nicht energisch und glaubwürdig um die Verfolgung dieser Säureangriffe kümmern.“
Die sehr kluge Rede ist zu lang, um hier wiedergeben zu werden. Niemand im Iran glaube daran, dass die omnipotenten Sicherheitsbehörden nicht in der Lage wären, die Attentäter von Isfahan zu ermitteln und festzunehmen, sagt der Professor unter anderem. Die Mehrheit der Iraner glaube zu Recht, dass hinter den Attentätern viel mächtigere Kreise als der Präsident stünden. „Entweder garantieren Sie ein Mindestmass an Rechtssicherheit oder vergessen Sie aus- oder inländische Investitionen. Die Aufhebung der Sanktionen allein reicht nicht aus“, schreibt der Ökonom und trägt Zahlen, Fakten und Statistiken vor.
Anschliessend macht er Rouhani einen ungewöhnlichen Vorschlag. „Zelten Sie solange auf dem grössten Platz der Stadt, bis Sie ein Ergebnis vorweisen können. Und selbst wenn es keins gibt, haben Sie damit der Bevölkerung gezeigt, dass Sie kämpfen.“ Recht hat der mutige Professor. Das wäre viel wichtiger für Rouhani als dessen jüngste Reise nach New York: aus eigenem Machtinteresse.
Mit freundlicher Genehmigung von "Transparency for Iran", das den Beitrag in "Iran Journal" veröffentlicht hat.