Mit ihrer «99%-Initiative» möchten die Initianten durch eine Umverteilung von oben nach unten der Schweiz mehr Gerechtigkeit geben und unsere Demokratie stärken. Zahlen, die solche Ansprüche belegen, zeigen allerdings, dass die Veränderung der Vermögen zwischen 2003 und 2015 nicht gross ist. Die Vermögenskonzentration ist zwar gross, doch würden die Pensionskassenvermögen mitberücksichtigt, sähe das weit weniger dramatisch aus. Soweit die Ausgangslage.
Zahlen sagen mehr als Schlagworte
Interessanterweise wird im Ausland das Leben in der Schweiz vielfach als erstrebenswert und demokratisch gefestigt beurteilt. Zahlen sprechen mehr als Schlagworte:
In Hinsicht auf den wachsenden Graben zwischen Reichen und Armen gibt die Auflistung der Länder nach dem Gini-Koeffizienten, eine Aufstellung über die Einkommensverteilung respektive deren Ungleichverteilungsmass, Auskunft. Je höher der Gini-Koeffizient, desto ungleicher ist die Einkommensverteilung im Land. Da findet sich die Schweiz auf Platz 89 von 107 untersuchten Ländern (somit rangieren vor ihr 88 Länder mit grösserer Ungleichheit).
Was die Arbeitszufriedenheit der Schweizerinnen und Schweizer betrifft, ergeben die Erhebungen des «Global Workforce Happiness Index» einen hohen Grad an Zufriedenheit. Die Schweiz belegt hier den Platz 7, noch vor Ländern wie Schweden, Finnland, Niederlande, Deutschland, Kanada und Frankreich.
Die Schweiz ist ein reiches Land. Gemäss der «Liste Bruttoinlandprodukt der Länder pro Kopf» liegt sie an zweiter, kaufkraftbedingt an sechster Stelle von 193 erfassten Ländern. Die «CS-Liste der Länder nach Vermögen pro Kopf» weist die Schweiz (2020) gar auf Platz eins von 163 erfassten Ländern, mit einem geschätzten Median-Vermögen von 146’733 US-Dollar (dieses ist aussagekräftiger als das Vermögen, da es weniger verzerrt ist durch die extremen höchsten Einkommen).
Wenn also die Initianten behaupten, es brauche in unserem Land mehr Gerechtigkeit und die soziale Ungleichheit drohe unsere Gesellschaft zu zerreissen, so muss man sich fragen, woher die relevanten Daten stammen, die diese Argumente unterstreichen.
Die verkappte Vermögenssteuer
Die Spezialistin zum Thema Ungleichheit an der Konjunkturforschungsstelle (KOF) der ETH Zürich, die Wirtschaftswissenschaftlerin Isabel Martinez, antwortet auf die Frage Was sagen Sie zur Idee der 99-Prozent-Initiative, die Kapital besteuern will?: «Sie ist eine verkappte Vermögenssteuer» und auf die Frage: Macht das Sinn?: «Aus rein ökonomischer Sicht nein – sofern die Märkte funktionieren und niemand eine marktbeherrschende Stellung missbraucht» («Tages-Anzeiger»). Ergänzend zu diesen Aussagen gilt: In der Schweiz unterscheiden wir bekanntlich zwischen Bundes-, Kantons- und Gemeindesteuern.
Bundessteuer: Dass heute schon hohe Einkommen besteuert werden, während tiefe verschont bleiben, zeigt folgende Tatsache klar auf: 46 Prozent der Familien entrichten gar keine direkte Bundessteuer, da ihr Einkommen unter 50’000 Franken liegt.
Jeder Kanton kennt daneben sein eigenes Steuergesetz und belastet Einkommen, Vermögen, Erbschaften, Kapital- und Grundstückgewinne sowie andere Steuerobjekte höchst unterschiedlich.
Die Gemeinden sind befugt, entweder nach eigenem Gutdünken kommunale Steuern zu erheben oder im Rahmen der kantonalen Grundtarife bzw. der geschuldeten Kantonssteuer Zuschläge zu beschliessen.
Die Vermögenssteuern werden in den einzelnen Kantonen sehr unterschiedlich erhoben (Föderalismus!). Der Steuerwettbewerb zwischen den einzelnen Kantonen führt dazu, dass der Kanton Genf Vermögen mit 10,1 Promille, Nidwalden dagegen nur mit 1,3 Promille besteuert. Dieses System ist nicht unumstritten, führt es doch zu «Wanderbewegungen»: Reiche Personen (Firmen) ziehen dorthin, wo sie wenig Steuern zu bezahlen haben.
Einkommens- und Vermögenssteuern unterliegen der Progression, d. h. sie steigen desto kräftiger, je höher die entsprechenden Beträge sind. Damit realisieren wir schon heute in der Schweiz ein relativ ausgewogenes und transparentes System: Reiche bezahlen höhere Prozentsätze auf Einkommen und Vermögen – einer der Faktoren, warum die Ungleichheit in unserem Lande vergleichsweise abgeschwächt wird.
Und schliesslich die AHV-Beiträge: Hier sind die effektiven Einkommen beitragspflichtig, obwohl die maximale monatliche Rente auf 2390 Franken begrenzt ist, auch für mehrzahlende Vielverdienende. Alle über 86’040 Franken liegenden Einkommen zahlen also faktisch eine «Reichtumssteuer», diese wird jedoch «Solidaritätsbeitrag» genannt.
Was hat Ungleichheit mit Gerechtigkeit zu tun?
Spüren Sie im Moment, in dem Sie diese Zeilen lesen, Nachteile oder Beeinträchtigungen durch die «steigende Ungleichheit», über die in den Medien immer wieder berichtet wird? «Noch nie war die Ungleichheit grösser als heute» ist einer der entsprechenden Titel. Historisch gesehen ist diese Behauptung schon mal Unsinn.
Ob ein paar wenige Superreiche in den vergangenen Jahren stark steigende Einkommen verzeichneten, hat doch auf unseren persönlichen Alltag keinen Einfluss. Viele von jenen Überfliegern haben durch ihre Firmen, ihre Ideen, ihrer Risikobereitschaft abkassiert – so what? Meine Befindlichkeit wird dadurch nicht tangiert. Ob also bei dieser medial befeuerten Diskussion (Piketty lässt grüssen) nicht eher ein Quäntchen Neid mitspielt?
Mit mehr Gerechtigkeit und einer Stärkung der Demokratie, wie die Initianten der 99-Prozent-Initiative behaupten, hat ihr Vorschlag wohl kaum zu tun. Auch das Argument «weniger Krisen auf dem Buckel der 99%!» ist abenteuerlich, eine «Zerfleischung unseres Wirtschaftssystems» ist nicht in Sicht.
Klassenkampf statt Fakten?
«Gemäss Studien der Universität St. Gallen ist im Zeitraum von 1990 bis 2010 der Einkommensanteil des obersten Prozentes von 8,5 auf rund 11 Prozent gestiegen und erreichte damit wieder etwa das Niveau der 1960er Jahre» (NZZ). Auch wenn sich dieser Anteil in den letzten zehn Jahren etwas weiter vergrössert haben sollte, wo liegt das Problem?
Gemäss den Statistiken des Bundes sind die Bruttoerwerbseinkommen in der Schweiz für Arbeitnehmende seit 1990 von 48’000 auf 70’000 Franken angestiegen. Das sind rund 50 Prozent. Der entsprechende Konsumentenpreisindex kletterte im gleichen Zeitraum von 82 auf 108 Punkte, was einer Teuerung von rund 30 Prozent entspricht. Diese Fakten erzählen eine andere Geschichte, als man uns suggerieren will.
«Mehr Gerechtigkeit!» tönt gut. Ob Ungleichheiten stören, ist abhängig vom Standpunkt des Menschen. So gibt es viele Bereiche, in denen die ungleichen Ansichten in der Bevölkerung die einen stören, den anderen völlig egal sind (Corona-Impfung, Klimaerwärmung, Nachhaltigkeits- und Transparenzgebot als Beispiele).
Bundes-, National- und Ständerat lehnen die Initiative ab. Das Wirtschaftskomitee mit Vertretern von SVP, FDP, Mittefraktion und Grünliberalen bezeichnet die 99-Prozent-Initiative als «schädlich für 100 Prozent der Bevölkerung» (NZZ).