Schlägt man sein Buch auf, möchte man es gleich wieder zuschlagen. Denn der Titel über dem ersten Kapitel löst ungläubiges Staunen aus: „Der grosse Sprung nach vorn“. War das nicht der Slogan, unter dem Mao Zedong 1958 die Kampagne für den neuen Fünfjahresplan lancierte, die in einer Hungersnot mit schätzungsweise 40 Millionen Toten endete? Merkwürdig und auch nicht sehr sensibel, die Parole eines Diktators als Auftakt zu einem Demokratiebuch.
Der grosse Sprung gelang der Schweiz, so Lang, in den Jahren 1861 bis 1874. Es handelte sich allerdings weniger um einen Sprung als vielmehr um eine Phase zäher, von Rückschlägen begleiteter Richtungskämpfe, die der total revidierten Bundesverfassung von 1874 vorausging. Jene Verfassung brachte dann aber in der Tat einen kräftigen Modernisierungsschub: Einführung des Referendums, Gleichberechtigung der Juden, Armengenössigen und Neuzuzüger, Abschaffung der Todesstrafe (die einige Jahre später allerdings wieder eingeführt wurde), Säkularisierung des Schulwesens usw. „So viel demokratischer Fortschritt war nie zuvor und nie mehr danach“, kommentiert Lang geradezu schwärmerisch
Freiheitsbäume gegen Grossmacht Kirche
Herbert Lüthy (1918–2002), der renommierte Basler Historiker, sagte einmal, es sei interessant zu wissen, wie etwas gewesen, aber noch viel interessanter, wie etwas geworden sei. Wie die 1874er Verfassung geworden ist, erklärt Lang sehr kenntnisreich und spannend. Man merkt: da ist der in einem katholischen Milieu aufgewachsene Zuger in seinem Element.
Das Denken der politischen Öffentlichkeit beherrschte damals der äusserst scharf geführte Kulturkampf. Auf der einen Seite die historische Grossmacht der katholischen Kirche, deren Exponenten die Gemeinschaft der Bürger (Bürgerinnen spielten keine Rolle) als „sakralen Volkskörper“ betrachteten, die nicht daran dachten, den Einflussnahme auf Denken und Handeln ihrer Schäfchen auch nur um ein Jota zu lockern und gegen alles „Fremde“ wetterten, was sich insbesondere in einem unglaublich hässlichen Antisemitismus manifestierte. Auf der anderen die Liberalen, Demokraten und Radikalen, die im Sinne der Aufklärung für die Emanzipation des Individuums, für Volks- und Bürgerrechte kämpften und ihre Freiheitsbäume gegen die Grossmacht Kirche pflanzten.
Im Schüttelbecher der Geschichte
Mit zahlreichen Zitaten aus beiden Lagern veranschaulicht Lang dem Leser, wie und um was unsere Vorväter im 19. und schon im 18. Jahrhundert stritten. Und akribisch verfolgt er bis in die Gegenwart hinein, wie sich die Bruchlinie zwischen Bremsern und Erneuerern entwickelte und vor allem, durch welche Höhen und Tiefen die Parteien und Bewegungen innerhalb der Lager gingen. Der Freisinn, als „linke Sammlungsbewegung“ die treibende Kraft im jungen Bundesstaat, mutierte zur rechten „Herrenpartei“ und verlor sukzessive an Einfluss; als Folge von Industrialisierung, Kriegen und Krisen betrat eine andere, anfänglich „proletarische“ Linke die Bühne, später folgten die Frauenbewegung, die Grünen, schliesslich der – für schweizerische Verhältnisse – kometenhafte Aufstieg der Nationalkonservativen (SVP). Deren Kampf gegen Europa, schreibt der Autor, weise ähnlich identitäre Züge auf wie einst die Verteidigung des christlichen Staates durch den politischen Katholizismus. Aus welchem, bleibt beizufügen, eine CVP hervorgegangen ist, die heute um ihr Überleben ringt und um die Frage, ob sie das C überhaupt noch in ihrem Namen behalten soll.
Verdienstvoll ist, dass der Autor versucht, Übersicht in den Schüttelbecher der Geschichte zu bringen und die Abläufe begreifbar zu machen. Aber er tut es, je mehr er sich der Gegenwart nähert, mit einer solchen Anhäufung von Details und in einer so hohen Kadenz von Sprüngen vom einen zum andern Thema, dass die Analyse von Werden und Wesen neuer Etappen zu kurz kommt. Man kann sich nicht des Eindrucks erwehren, dass dem Historiker Lang die Unbefangenheit nach und nach entgleitet und der Politiker Lang die Feder führt. Seine Beschreibung des Wechselspiels der Kräfte im ausgehenden 18. und dann im 19. Jahrhundert ist souveräner und damit besser geraten als jene der jüngeren Vergangenheit. Vielleicht liegt dies daran, dass er zu sehr im Bann seiner eigenen Agenda steht, was distanzierter Betrachtung nicht unbedingt förderlich ist.
Nehmen wir als Beispiel den Kalten Krieg und davon die 1950er und 1960er Jahre. Mit dieser Periode geht Lang, was begreiflich ist, besonders scharf ins Gericht. Der Konformismus, der Beginn des Fichenstaats, die Übergewichtigkeit der Armee (auch in den Bundesbudgets), das geradezu einfältige Zivilverteidigungsbüchlein, der virulente Antikommunismus: Es handelte sich tatsächlich um eine bleierne Zeit.
Ein Blick über den Tellerrand
Doch könnte man, um ihr besser gerecht zu werden, den Réduit-Blick vielleicht etwas öffnen in Richtung Welt. In der ging es damals ausgesprochen turbulent zu und her. 1950 brach der Koreakrieg aus, 1953 schlug die Sowjetarmee den Arbeiteraufstand in der DDR nieder, 1956 schrammte Polen haarscharf an einer Intervention der Roten Armee vorbei, die im Herbst dann in Ungarn erfolgte, 1961 mauerte sich Ostberlin ein, 1968 beendeten die Warschau Pakt-Staaten den Prager Frühling. Der Kommunismus zeigte sich von einer Seite, die kaum als gewinnend bezeichnet werden kann. Mehr noch, er schürte in breiten Bevölkerungsschichten massive Ängste, die, wie einst zu Zeiten der Pest oder heute des Klimawandels, massive Reaktionen auslösten. Damit sollen die Übertreibungen der kalten Krieger nicht beschönigt werden, doch politische Phänomene sind unzureichend erklärt, wenn auf die Wirkungsmacht von Gefühlen gar nicht erst eingegangen wird.
Zu den „Angstmachern“ in der Schweiz gehörten damals auch die „eigenen“ Linken. Weniger die in der Konkordanz etwas zahm gewordenen Sozialdemokraten, sondern jene Gruppen und Grüppchen, die sich an den Theorien von Lenin, Trotzki, Stalin, Mao orientierten und in der 68er Bewegung eine nicht unwesentliche Rolle spielten. Doch wie passte das eigentlich zusammen: Der laute Ruf nach Emanzipation und Partizipation mit der Anlehnung an Leitfiguren, die in ihrem Einflussbereich Repression, nicht aber Demokratie praktizierten? Wenigstens ein Abschnittchen darüber hätte Lang, ein intimer Kenner des Milieus, in sein Demokratiebuch aufnehmen können.
Zehn Herausforderungen
Im Schlussteil seiner Studie skizziert der Autor – in zurückhaltender Frageform – zehn Herausforderungen, mit denen die Demokratie in unserem Land konfrontiert ist. Ihr grösstes Defizit ortet er im Ausschluss der ausländischen Bevölkerung von politischer Mitsprache, als Schwäche betrachtet er ferner die fehlende Transparenz bei der Finanzierung politischer Aktivitäten. Zur eklatanten Ungleichheit in der Verteilung des Besitzes wirft er die Frage auf: Kann die Demokratie den Citoyennes und Citoyens gehören, wenn der Grossteil der Schweiz wenigen Bourgeois gehört? Und zur Domestizierung der „ausserdemokratischen Grossmächte“ (der Grossbanken) stellt er deren Zerlegung in kleinere Einheiten, die Überführung grundlegender Finanzdienste in einen Service public und die Förderung genossenschaftlicher Alternativen zur Diskussion.
Interessant sind auch seine Erwägungen dazu, wie der „Tyrannei der Mehrheit“ zu Leibe gerückt werden könnte. Er meint damit jene Volksinitiativen der Rechtsnationalen, die den Menschenrechten und dem Völkerrecht widersprechen. Doch was tun? Die Hürden für die Ungültigkeitserklärung senken? Oder, wenn Grundrechte auf dem Spiel stehen, zum Mittel zivilen Ungehorsams greifen? Denn, fragt Lang, „dient der zivile Ungehorsam nicht auch dazu, in Erinnerung zu rufen, dass am Anfang der Demokratie, erst recht in der direkten, die Bürgerinnen und Bürger stehen?“
Die Lektüre dieses Buchs ist eine Herausforderung. Es überfällt einen mit einer ungeheuren Stoffmenge, es ist gleichzeitig erhellend und irritierend, gründlich und oberflächlich, gelassen erklärend und missionarisch. Kein Zweifel aber, dass es die Diskussion um die Weiterentwicklung unserer Demokratie bereichern wird.
Josef Lang: Demokratie in der Schweiz. Geschichte und Gegenwart. Verlag Hier und Jetzt, Fr. 39.–