الْفَقْرُ فَخْرِی وَ بِهِ أَفْتَخِرُ عَلَى سَائِرِ الْأَنْبِیَاءِ؛
„Armut ist mein Stolz, und das erhebt mich über alle Propheten vor mir.“ Dieses bekannte Zitat des Propheten Mohammed hat derzeit im Iran Konjunktur. Über seine Echtheit und seinen Wahrheitsgehalt lässt sich allerdings ebenso lange streiten wie darüber, ob Mohammed tatsächlich arm war.
Der Prophet war ja in seinen jungen Jahren bekanntlich als Handelsreisender für eine reiche ältere Dame namens Khadijeh unterwegs, die er später heiratete. Als er sich im Alter von vierzig Jahren zum Gesandten Gottes erhob, wurde er nicht nur geistliches, sondern auch weltliches Oberhaupt seiner Gemeinde: Führer und Kriegsfürst. Es sei dahingestellt, ob ein Mensch in solcher Position überhaupt arm sein konnte oder durfte.
Doch Zitate und Überlieferungen, die dem Propheten zugeschrieben werden, führen im Islam ein Eigenleben. Sie haben, jenseits ihrer historischen Wahrheit, für islamische Gesellschaften eine herausragende, bestimmende Bedeutung. Wahr oder erfunden, Sprüche des Propheten haben Geschichte und Gegenwart der Muslime geprägt und werden höchstwahrscheinlich auch ihre Zukunft prägen. Armeen von Gelehrten haben seit 1’400 Jahren nichts anderes zu tun, als diese Sprüche zu evaluieren und zu interpretieren, um sie dann für ihre Gegenwart zu modellieren. Der Armuts-Spruch gehört dabei zu jenen Überlieferungen des Propheten, die kein ernsthafter Gelehrter in Zweifel zieht.
Soll man, wie der Prophet, stolz sein, weil man arm ist? Was ist das Gute, das sich im Elend verbirgt? Kommt der Mensch in Not tatsächlich dem Schöpfer näher? Und wie soll man sich in Zeiten der Knappheit und des Mangels verhalten?
Mit diesen und ähnlichen Fragen müssen sich die Gelehrten der Islamischen Republik dieser Tage mehr denn je beschäftigen. Denn in Zeiten der Sanktionen und der Coronapandemie ist die Kraft des Faktischen bedrückend. Alle reden und klagen über Armut, Verteuerung und Knappheit – eine Realität, die sich nicht mehr kaschieren lässt. Sogar die Nachrichtenwebseite Fars, die den Revolutionsgarden nahe steht, ist gezwungen, sich täglich des Themas anzunehmen.
Prediger, Philosophen und Ayatollahs reden ausführlich über das Spirituelle und Mystische in der Misere. Es gebe zwei Arten von Armut: jene, die zu Sünde und Kriminalität führe, und eine andere, die die Menschen in ein Gottesvolk verwandele, schrieb Fars kürzlich und zitierte den Koran:
یا أَیُّهَا النَّاسُ أَنْتُمُ الْفُقَراءُ إِلَى اللَّهِ وَ اللَّهُ هُوَ الْغَنِیُّ الْحَمِیدُ؛
„Oh Ihr Menschen, ihr seid alle arm, ihr bedürft der Hilfe Gottes, der reich und gesegnet ist.“
Religiöse Rechtfertigung hin, politische Beschwichtigung her, die Kardinalfrage bleibt. Warum und wo begann der Weg des Iran in diese Ausweglosigkeit, wie kam das Elend über die Menschen? Die öffentliche Debatte darüber wird zwar erbittert geführt, doch sie hört sich wie ein Henne-Ei-Problem an, wie ein Streit aus der Urzeit, als die Menschheit auf der Suche nach Wissen und Erkenntnis war.
Was kam zuerst und wer verursachte die unbestreitbare Misere? Waren es die erstickenden US-Sanktionen oder war es das hausgemachte Missmanagement der eigenen Regierung, gepaart mit überbordender Korruption? Welcher Präsident ist verantwortlich für kaum ertragbare Lasten und Leiden? Donald Trump oder Hassan Rouhani? Und wie kommt man aus der Sackgasse heraus? Jeder hat seine eigene Antwort und niemand eine Lösung.
Ein Wort soll alles erklären: Feindschaft
Parlamentarier, Prediger und Propagandisten im Funk und Fernsehen kommen dieser Tage nicht umhin, über die unübersehbare Misere zu reden, die das Land erfasst hat. Jeder von ihnen hat seine eigene Erklärung, warum es so wurde, wie es ist. Doch den wahren Gründen für die ausländischen Sanktionen können und dürfen sie nicht zu nahe kommen, sonst wanken die Koordinaten des ganzen Systems.
Für die Beantwortung der Sanktionsfrage genügt ihnen ein Wort: Feindschaft. Die USA seien von Anfang an Feind der Islamischen Republik gewesen, sie seien es bis heute und sie würden es bleiben, weil sie die Herrschaft des revolutionären Islams nicht duldeten. Das ist des Rätsels Lösung, damit ist die Geschichte der über 40 Jahre andauernden Sanktionen erzählt. Und ganz falsch ist dieses Narrativ nicht.
Doch mit dem politischen Islam allein kann man diese alte Gegnerschaft nicht erklären. Sonst hätte man Schwierigkeiten, die Nähe der USA zu den Steinzeit-Islamisten in Saudi-Arabien zu verstehen, zu den afghanischen Taliban oder jenen Diktatoren, die sich ein islamisches Antlitz geben. Die Gründe ihrer Feindschaft gegenüber dem Iran muss man nicht im Islam, sondern in jenen Ereignissen der vergangenen vierzig Jahre suchen, die die Beziehung zwischen Teheran und Washington prägten.
Mit Sanktionen kam das Kind zur Welt
Sanktionen waren im Grunde genommen die Geburtswehen der Islamischen Republik. Wehen, die mit der Kindesgeburt keineswegs endeten. Im Gegenteil: Je mehr dieses Kind heranwuchs und herumtobte, umso stärker und schmerzlicher wurden diese Wehen, bis sie die Unerträglichkeit des heutigen Tages erreichten, wo das einstige Kind bald 42 Jahre alt wird.
Der 11. Februar 1979 ist der offizielle Siegestag der Islamischen Revolution, also der Tag des endgültigen Sturzes der Monarchie. Doch der eigentliche Sieg der Revolutionäre fand am 4. November 1979 statt. Was an diesem Tag passierte, nannte Revolutionsführer Ayatollah Ruhollah Khomeini später die zweite Revolution. Die Stimmung war am Morgen dieses Tages gereizt in Teheran. Drei Tage zuvor hatte Khomeini in einer Ansprache Aktionen gefordert, die der gesamten Welt einmal mehr demonstrieren sollten, dass der Iran nach der erfolgreichen Revolution eine islamische Republik geworden sei.
„Tod Amerika!“, skandierten an diesem Tag mehrere Hundert revolutionstreue Studenten vor der US-Botschaft, einige Dutzend von ihnen kletterten über den Zaun und drangen gewaltsam in das Gebäude ein. Sie brachten 66 US-Diplomaten in ihre Gewalt, 52 davon wurden über ein Jahr lang als Geiseln gehalten. Khomeinis zweite Revolution war vollbracht, die provisorische zivile Regierung trat zurück, die radikale Geistlichkeit war an ihrem Ziel.
Die Ereignisse dieses 4. Novembers 1979 sind die Fundamente eines Gebäude, das immer weiter wuchs, es entstand jene Feindschaft, die immer noch viele im Iran ebenso wie in Amerika für unüberbrückbar halten.
Lang ist ihre Geschichte
Die Wurzeln der antiamerikanischen Stimmung, die sich an diesem Tag entlud, lagen damals schon fast drei Jahrzehnte zurück: Es war der Sturz des demokratisch gewählten Ministerpräsidenten Mohammad Mossadegh am 13. August 1953. Die Volksmeinung über diesen Tag lässt keinen Zweifel zu: Es waren die CIA und Amerikas Durst nach Öl.
Fast 47 Jahre später, im März 2000, räumte die damalige US-Aussenministerin Madelaine Albright zwar erstmals eine Beteiligung der USA an diesem Staatsstreich ein. Einen Monat danach veröffentlichte die New York Times Dokumente, die die Schlüsselrolle der CIA bei diesem Putsch beschrieben. Doch dieses Geständnis blieb folgenlos. Die Eiszeit, die mit der Botschaftsbesetzung begann, liess sich nicht so leicht umkehren.
Das Kind tobt: Beirut, Berlin, Salman Rushdie
Unmittelbar nach der Geiselnahme der amerikanischen Diplomaten beschloss die US-Regierung eine Importsperre für iranische Güter. Doch das Kind, das mit Sanktionswehen zur Welt gekommen war, tobte weiter.
Noch befanden sich die Diplomaten in der Geiselhaft, als am 22. September 1980 der Krieg gegen den Irak begann. Er dauerte acht Jahre, und in dieser Zeit stand die Islamische Republik unter einem weltweiten Waffenembargo, während der irakische Diktator Saddam Hussein sich in fast allen Länder der westlichen Welt Kriegsmaterial besorgen konnte.
Dieser Krieg war auf seinem Höhepunkt, als am 13. April bei einem Terroranschlag auf die Botschaft der USA in Beirut 60 US-Soldaten getötet wurden. Unmittelbar danach erklärte US-Präsident Ronald Reagan den Iran zum „Sponsor des internationalen Terrorismus“. Wieder wurden die Sanktionen verschärft.
Kaum war der Krieg vorbei, erliess Ayatollah Khomeini 1989 eine Todes-Fatwa gegen den Schriftsteller Salman Rushdie wegen dessen Buchs „Die satanischen Verse“. Damit war die Islamische Republik nicht nur für die US-Regierung, sondern für viele in der westlichen Welt ein „Schurkenstaat“. Aus Protest zogen alle EU-Staaten ihre Botschafter aus dem Iran ab. Sanktionen sollten folgen.
Drei Jahre später, am 17. September 1992, ermordete ein Todeskommando auf Befehl aus Teheran vier iranische Oppositionelle im Berliner Restaurant Mykonos. Ein Berliner Gericht stellte später in seinem Urteil fest, beinahe die gesamte Spitze der Islamischen Republik sei in dieses Attentat involviert gewesen. Als Reaktion darauf sprachen sich alle Parteien in der Bundesrepublik für ein Ende des „kritischen Dialogs“ der EU mit dem Iran aus. Es folgten: unterschiedliche Sanktionen.
Atomwaffen und der „Dialog der Kulturen“
Das kurze Tauwetter von 1997, als Mohammed Chatami zum Präsidenten gewählt wurde, konnte das Eis nicht brechen. Während Chatami auf der öffentlichen Bühne der Weltpolitik für den „Dialog der Kulturen“ warb, lief im Geheimen etwas sehr Explosives, das bis heute das weltweite Sanktionsregime gegen den Iran bestimmt. 2002 war nämlich bekannt geworden, dass die Teheraner Machthaber zwei Nuklearanlagen betrieben, eine Urananreicherungsanlage in Natanz und eine Schwerwasseranlage in Arak. Sie hatten sich offenbar auf den Weg gemacht, Kernwaffen zu produzieren.
Die Lage wurde kritisch, als die Internationale Atomenergiebehörde IAEA im Spätsommer 2003 in Natanz Spuren angereicherten Urans fand. Der Iran habe sein Nuklearprogramm 18 Jahre lang geheim gehalten, berichtete die Agentur später. Seitdem läuft mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten beides weiter: die Urananreicherung in Irans Atomanlagen ebenso wie die internationalen Sanktionen.
Welcher Staat warum die Islamische Republik wie streng sanktioniert hat und was diese Sanktionen bewirkten, darüber liesse sich ein dickes Buch schreiben: Uno-Sanktionen, die für alle Staaten der Welt verbindlich sind, Sanktionen einiger Regierungen, die ihre speziellen Probleme mit Teheran haben, und schliesslich die US-Sanktionen, die umfassend, universell und für die Teheraner Machthaber besonders schmerzhaft sind. Die Hintergründe und Ursachen dieser Sanktionen lesen sich oft wie ein spannender Krimi.
Sieben Präsidenten, eine Spirale
Seit ihrer Gründung hat die Islamische Republik sieben US-Präsidenten erlebt, von Jimmy Carter bis Donald Trump. Männer von unterschiedlichen Charakteren und mit höchst verschiedenen Programmen in der Innen-und Aussenpolitik. Doch trotz dieser Unterschiede gab es in all diesen Jahren bei den Sanktionen gegen den Iran Konstanz. Mit Reagan begann sie, dessen Nachfolger setzten die Sanktionsspirale, jeder auf seine Art, fort. Eine kurze Pause gab es nur in jenen Jahren, in denen man „das Ende der Geschichte“ feierte: in der Zeit des Zusammenbruchs der Sowjetunion und allem, was dann folgte. In dieser historischen Ära Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts war George Bush Senior mit Wichtigerem beschäftigt, als sich der Iran-Sanktionsspirale zu widmen.
Sein Nachfolger Bill Clinton drehte aber weiter daran. Wegen der Unterstützung von Terroristen und des Strebens nach Massenvernichtungswaffen erliess er 1995 ein umfassendes Handelsembargo gegen den Iran. George Bush Junior ging noch weiter und erklärte die Islamische Republik zur „Achse des Bösen“, er ging sogar bis zur Schwelle eines heissen Krieges vor.
Obama drehte am meisten an der Spirale
Und dann kam der Hoffnungsträger Barack Obama. Seine Präsidentschaft gilt gemeinhin als Zeit der Entspannung und Annäherung zum Iran, denn mit ihm assoziiert man das weltweit gefeierte Atomabkommen. Doch so seltsam es klingen mag: Die Obama-Jahre waren die Ära härtester Sanktionen gegen den Iran. Zwar sprach er sich zu Beginn seiner Amtszeit für einen „konstruktiven Neuanfang“ mit dem Iran aus. Doch seine Aussenministerin Hillary Clinton war Anhängerin der „lähmenden Sanktionen“ – eine Haltung, die man eher von Hardlinern gewöhnt war.
Während Obama im Geheimen eine Lösung für das Problem des iranischen Atomprogramms suchte, betraute er Dennis Ross mit dem Iran-Dossier: ein Falke, der in Washington als Israel-Lobbyist bekannt war. Ross war unter Bill Clinton Verhandlungsführer für den Nahen Osten und auch schon damals Sondergesandter für den Iran gewesen. Er war es, der vorschlug, jene iranischen Firmen zu sanktionieren, denen man Verbindungen zum grössten Geldhaus des Landes, der Bank Melli, nachsagte. Weitere Sanktionen sollten folgen.
Der US-Kongress beschloss Ende Oktober 2009 eine bis dahin beispiellose Verschärfung. Sie sollte den Erdölimport, die Haupteinnahmequelle des Irans, zum Versiegen bringen. Allen ausländischen Finanzinstituten, die Geschäfte mit der iranischen Zentralbank oder mit anderen auf US-Listen geführten iranischen Finanzinstituten betrieben, wurde mit dem Verlust ihrer US-Korrespondenzkonten gedroht. Dies traf auch alle ausländischen Zentralbanken, wenn sie Ölverkäufe über die iranische Zentralbank abwickelten. So wurden ausländische Staaten gezwungen, kein Erdöl mehr aus dem Iran zu beziehen. Auch alle Firmen, die Benzin in den Iran exportierten oder an der Entwicklung der maroden iranischen Ölindustrie beteiligt waren, wurden bestraft. 2010 wurden erstmals Sanktionen gegen führende Mitglieder des iranischen Regimes wegen Menschenrechtsverstössen erlassen, 2011 war die petrochemische Industrie an der Reihe, eine weitere wichtige Einnahmequelle des Landes.
Und im Februar 2013 wurden Sanktionen gegen staatliche iranische Rundfunkanstalten und deren Verantwortliche beschlossen, weil sie die iranische Opposition zensierten. Alle diese Sanktionen blieben auch nach dem international gefeierten Atomabkommen in Kraft. Und Präsident Trump erbte und verschärfte sie.
Trump stopft die Löcher
Nachdem Donald Trump im Mai 2018 den Austritt aus dem Atomabkommen verkündet hatte, machte er sich daran, die letzten noch verbliebenen Löcher zu stopfen, durch die die Islamische Republik die Sanktionen zu umgehen versuchte. Ende April 2019 hob er die Ausnahmegenehmigungen auf, mit denen einige Länder für sechs Monate Ölgeschäfte mit dem Iran machen durften. Das Ziel war, den Iran von den fünf wichtigsten Käufern seines Öls – China, Indien, Japan, Südkorea und der Türkei – abzuschneiden. Und das Ziel wurde erreicht.
Im UN-Sicherheitsrat versuchte Trump sogar, mit dem sogenannten Snapback-Mechanismus die Rückkehr zu weiterreichenden Sanktionen gegen Teheran zu erzwingen. Er scheiterte zwar, doch das US-Sanktionsregime war auch so lähmend genug, es machte aus dem Iran ein beinahe völlig isoliertes Land. Selbst die Verwendung des US-Dollar im Rahmen einer Transaktion kann zum Verhängnis werden.
Auch mit Joe Biden bleiben Sanktionen bestehen
Erdölexporte, die diesen Namen verdienen, tätigt der Iran derzeit nicht mehr. Mit 6 bis 7 Millionen Barrel pro Tag war er einst der zweitgrösste Erdölexporteur der Welt. Heute verkauft das Land auf Umwegen oder dem Schwarzmarkt täglich etwa 750’000 Barrel, doch selbst das ohne normale Banktransaktionen: oft Öl gegen Ware.
Wann und unter welchen Bedingungen der künftige US-Präsident Joe Biden zum Atomabkommen zurückkehren wird, ist ungewiss. Gewiss ist allerdings, dass auch unter Biden fast alle Sanktionen einstweilen Bestand haben werden. Denn Biden bräuchte für ihre Aufhebung die Zustimmung des US-Kongresses. Und dort gibt es genug Abgeordnete, die eine Lockerung der Fesseln des Iran ablehnen – unter ihnen viele Demokraten.
Mit freundlicher Genehmigung Iran Journal