Junge können nicht mehr richtig schreiben. Kein klarer Satz mehr. Verluderung. Anglizismen. Von Grammatik keine Ahnung. Falscher Genitiv. Social-Media-Geschnipsel. Der „Spiegel“ schreibt süffisant von „Rechtschreipkaterstrofe“.
Die Klage um den Zustand der deutschen Sprache ist uralt. Das deutsche Magazin „Geo“ *) hat nun die Diskussion neu entfacht und auch in Schweizer Lehrerkreisen teils heftige Reaktionen ausgelöst. Lassen wir einige von „Geo“ zitierten Sprachwissenschaftler zu Wort kommen. Geht es der deutschen Sprache wirklich so schlecht? Die Linguisten zeichnen ein differenziertes Bild.
Wolfgang Klein, der Leiter des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache (DWDS), sagt, der Zustand der deutschen Sprache sei „hervorragend“. Nur wenige andere Sprachen besässen „einen derart reichen Wortschatz“. Allein in den letzten hundert Jahren habe er um eine Million Wörter zugenommen. Es gebe heute in deutschen Texten etwa 5,3 Millionen Wörter. Die beklagten Anglizismen seien zwar „in der Werbung und der Popkultur“ sehr präsent – ihre Zahl werde jedoch überschätzt.
Eine soziale Frage
Der Linguist Wolfang Steinig hat seit 1972 eine Langzeitstudie durchgeführt. Alle zehn Jahre spielte er Viertklässlern den immer gleichen Film vor, den die Jungen dann besprechen mussten. Ergebnis: Die Zahl der Rechtschreibefehler hat sich mehr als verdoppelt. Aber: „Wenn man das Gesamtbild betrachtet, deutet wenig auf geringer werdende Schreibfähigkeit oder gar Sprachvielfalt hin“, sagt Steinig. Die Texte wurden zum Teil länger, freier, kreativer, phantasievoller.
In der Studie von 2012 jedoch habe sich das Verhältnis zur Schriftlichkeit plötzlich „deutlich verändert“. Die Texte glichen nun eher spontanen mündlichen Äusserungen, „oft geradezu schnoddrig notiert“. Viele Kinder äusserten selbstbewusst ihre Meinung, „ohne sich gross um die sprachliche Form zu scheren“. Als Grund vermutet Steinig Smartphones und Tablets.
Steinigs Studie offenbart: Korrekte Schreibweise wird zu einer sozialen Frage. Kinder aus bildungsfernen Schichten sind heute erheblich schlechter im Schreiben als ihre privilegierten Mitschüler – „und zwar unabhängig vom ethnischen Hintergrund der Familien“.
Von einem Modus in den anderen wechseln
Eine Lehrerin erklärt, „Rechtschreibung ist nicht das Problem“. Etwas Anderes bereite ihr Sorgen: die mangelnde Sprachfähigkeit der Kinder. Die um sich greifende Unfähigkeit, sich mitteilen zu können, zuhören zu können, zu argumentieren, andere ausreden zu lassen“. Als Grund nennt sie, dass „in den Familien das Gespräch nicht mehr kultiviert wird“.
Doch noch nie hätten Junge so viel geschrieben wie heute. In Chats und sozialen Medien entstehe eine neue Form der Sprache, eine Mischform aus mündlich und schriftlich, schreibt „Geo“. „Was machst du Wochenende?“ Schwappt das hinüber in die Schriftsprache?
„Die digitalen Medien schaffen die alte Form von Kommunikation nicht ab, sie bereichern sie um neue Möglichkeiten“, sagt Klein. Parallel zur Schriftsprache entwickle sich eine Sprachschrift. Jugendliche könnten mühelos von einem Modus in den anderen wechseln. Auch Christa Dürscheid von der Universität Zürich kommt laut „Geo“ zu diesem Befund. „Netzkommunikation hinterlässt in Schultexten bisher wenig Spuren.“
Kein Massensterben des Genitivs
Auch den häufig verwendeten Emojis (Smilies etc.) gewinnen die Linguisten nichts Schlechtes ab. „Emojis geben der Schriftsprache eine neue Dimension“, sagt Dürscheid, „indem sie Mimik, Betonung und Gestik ins Schriftliche übertragen.“ Emojis würden die Kommunikation auflockern.
Henning Lobin, Direktor des Instituts für deutsche Sprache, will nicht ins Klagelied der Sprachpuristen einstimmen. Das neue Bild der Sprache sei vor allem eines von schnellem Wandel. „Sprache ist ein Fluidum, das sich permanent verändert, das sich anpasst, erneuert und dahinströmt wie ein unbegradigter Fluss.“ Diesen Wandel würden Linguisten nicht als Verfall, sondern als Evolution verstehen.
Das neue Bild der Sprache offenbare „eine starke innere Stabilität“, betont Lobin. „Die Bedrohlichkeit nahezu aller beklagten Verfallsphänomene relativiert sich, wenn man ihr Auftreten in grossen Textmengen überprüft“, sagt er. So findet zum Beispiel „das vielfach befürchtete Massensterben des Genitivs“ nicht statt.
Entgleisungen, Verrohung
Doch da und dort verkommt die Sprache tatsächlich. Der amerikanische Psychologe John Suler erklärt, die Anonymität der Netzkommunikation fördere sprachliche Entgleisungen. Versteckt hinter dem Schutz des Pseudonyms „geben viele Menschen ihr zivilisiertes Verhalten auf. Rufmord und Volksverhetzung sind plötzlich keine Tabus mehr“.
Beklagt wird eine Brutalisierung des öffentlichen Diskurses. „Eine menschenverachtende Sprache dränge mit dem Aufstieg rechter Bewegungen in die Öffentlichkeit“, heisst es in dem Artikel. Der deutsche Grünen-Vorsitzende Robert Habeck wird mit den Worten zitiert: „Die sprachliche Verrohung bereitet der gesellschaftlichen Verrohung den Weg.“
*) „Geo“, Ausgabe 10/2019, „Ist dem Deutsch noch zu retten? Was mit unserer Sprache passiert“