Von Oberiberg geht es auf den Roggenstock. Zunächst eine gute halbe Stunde Aufstieg im Schatten der Nordwesthänge über Stafel, Grossweid und durch den Chäswald. Dann plagt man sich ein wenig eine kurze, steile Passage hinauf und erreicht eine Mulde. Dort kommen sie einer nach dem andern aus dem Schatten und machen plötzlich halt: geblendet von der grellen Wintersonne. Es sind etwa zwei Dutzend, die hier unterwegs sind: Wibli und Mannli, alte und junge, alle von der Sektion Einsiedeln des Schweizer Alpenclubs.
„Es ist ein riesiger Energiespender“, sagt Tourenleiterin Christine Meier. „Die Winterlandschaft erleben. Wenn ich das nicht hätte, müsste ich etwas anderes finden, das mir die Energie und die Kraft gibt, alles im Alltag zu bestehen, was auf einen zukommt.“
Der gleichen Meinung sind sicher alle hier. Aber ist damit schon alles gesagt? Nein, sagt Christine Meier, es sei viel mehr:
„Skitouren, das heisst für mich weglos unterwegs sein. Etwas vom Schönsten bei der Skitour ist ja eine schöne Spur legen. Ich folge da nicht einem vorgespurten Weg, sondern ich allein kann entscheiden. Und die ganze Schneewiese ist einfach da, für mich bereit, und ich kann selber mein Ziel setzen und meinen Weg machen.“
Ein wenig sei es wie überhaupt im Leben, meint sie. Da habe man manchmal das Gefühl, man müsse den vorgespurten Weg verlassen. Es gebe die Freiheit, einen andern Weg zu nehmen, aber diese Freiheit könne auch anstrengend sein.
Anstrengend ist es an diesem wolkenlos sonnigen Wintermorgen aber kaum. Schon bald erreicht Christine mit der ersten Gruppe das letzte Steilstück zum felsigen Roggenstock, die zweite Gruppe, geführt vom Bergführer Franz Zürcher, folgt etwas später, und schliesslich hocken sie alle in der milden Wintersonne auf dem Schneegipfel:
„Wie die Vögel auf der Stange“, lacht einer. Da wird Proviant aus dem Rucksack geholt, von der Chässchnitte bis zu Weihnachtsguetsli ist alles zu haben, einer zieht sogar eine Portion Brokkoli hervor.
Heute morgen hat niemand einen Weg suchen müssen. Der Roggenstock ist ein viel begangener Gipfel, das Gelände ist kreuz und quer von Spuren zerwühlt. Auch die Abfahrt wird kein Vergnügen, denn was noch vor ein paar Tagen Pulverschnee war, hat sich mit dem Wärmeeinbruch in bösen Bruchharsch verwandelt, eine Eiskruste, in der die Skier einbrechen wie auf einem schlecht zugefrorenen See.
Diesmal ist also nichts zu merken von dem vielbesungenen Pulverschneetraum, Wesenselement aller Skitouren-Mythologie. Aber natürlich sind das nicht alles nur Märchen. Noch letzte Woche bot dieses Gebiet um Einsiedeln das Bild einer meterhoch verschneiten Winterlandschaft, wie wir es von alten Postkarten kennen.
Lea, dreiunddreissig Jahre, weiss wie das ist, Bögeli fahren im Pulverschnee: „Es ist so eine Euphorie und Konzentriertheit. Es ist so, dass man absolut in dem Moment ist, ein super Körpergefühl und gleichzeit höchste Konzentration. Es gibt nichts anderes mehr, nur das.“
Andere sprechen von totalem Gefühl der Freiheit und nennen es schöner als Fliegen. Das schwungvolle Hinabgleiten erzeugt zweifellos Lebenslust und ein Gefühl von Bärenkraft. Es ist ein Moment der Passage: Da öffnet sich für Augenblicke ein Tor zu einem Raum, in dem die andere Welt nicht mehr existiert. Weder Sorgen noch Tod, noch Krankheit, Alter oder die Angst davor. Es ist ein Moment der Schwerelosigkeit. Und Schwerelosigkeit will heissen: Alle Last des Lebens wird abgeschüttelt in diesem Tanz.
Andreas, 64, genannt „Mini“, hat mit fünf oder sechs Jahren angefangen, Ski zu fahren: „Ich habe das Glück gehabt, dass mein Vater ein sehr guter Skifahrer war, er war auch Skilehrer, allerdings nicht hauptberuflich. Er hat sehr gern Skitouren gemacht und hat es mir gut beigebracht: Ich ha’s eigentlich vo ihm e chli mitgno.“
Es sei einfach so „ein ausgeflipptes Gefühl“, sagt Mini: „Man ist in dem Moment in seiner Welt und fährt den Pulverschneehang ab. Man vergisst alles rundherum. Und es ist eine Befriedigung, wenn man nachher hinaufschaut und schöne Bögeli gemacht hat. Man ist stolz darauf.“
Stolz darf man sein, denn das Skifahren ist etwas, das man lernen muss wie ein Handwerk. Kinder lernen im pulvrigen Tiefschnee wahrscheinlich schneller Skifahren als auf der präparierten Piste. Denn im Tiefschnee gibt es keine eisigen Passagen, kein subtiles und millimetergenaues Kantenspiel, keine harten Stürze. Im unberührten Pulverschnee fahren die Ski weich und geschmeidig. Da ist das Skifahren zunächst einmal nur eine Sache von Gleichgewicht, Rhythmus und ein wenig Mut.
Der Anfang scheint also einfach, doch im Lauf der Jahre merkt man dann, dass es zur Beherrschung der Sache soviel Zeit, Übung und Erfahrung braucht, wie man braucht, um ein Musikinstrument gut zu spielen.
Der dänische Ethnologe Peter Hoeg beschreibt in seinem Inuit-Krimi „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“, wieviel verschiedene Arten von Schnee die Nordländer kennen. Es gibt also nicht „das Fahren im Tiefschnee“, sondern das Skifahren in so vielen Arten von Schnee wie es Arten von Wetter gibt.
Bei der Abfahrt vom Roggenstock kann man dann sehen, wie gute, junge Skifahrerinnen und altgediente Tourenleiter und Bergführer einen schwierigen Schnee fahren: sie beherrschen alle Schneearten, wie ein Musiker alle Läufe in allen Tonarten beherrscht. Und weiter unten traversieren sie hinüber zu einem kleinen Berggasthaus namens Adlerhorst, wo es die Belohnung für gutes Skifahren gibt.
Der Uruguayer Eduardo Galeano schrieb einmal, die indigenen Völker Lateinamerikas und die aus Afrika importierten Sklaven hätten mit dem Gott des Cristóbal Colombo nicht viel anfangen können, denn sie hätten ganz andere Götter gehabt: „Götter, die singen und tanzen.“
Man könnte sich vorstellen, dass die Germanenvölker Nordeuropas Götter hatten, die Ski fuhren. Und wenn diese heidnischen Schneegötter auf Wolken von Pulverschnee auf die Erde herunter kamen, tranken sie wohl ein Bier in einer Beiz wie dem Adlerhorst ob Oberiberg, und dann stiegen mit ihren Fellen wieder hinauf in den Schneehimmel. Singend und tanzend.