Nach mehr als drei Wochen der Verhandlungen und nach drei Monaten einer vorausgegangenen schleichenden Regierungskrise haben die drei Koalitionsparteien Tunesiens sich auf die Ernennung einer neuen Regierung geeinigt. Sie hatten versucht, die Basis ihrer Koalition zu erweitern, indem sie andere Parteien in die Regierung aufnehmen wollten.
Doch dies war misslungen. Es gab auch ein Seilziehen innerhalb der Koalition zwischen der diese führenden islamischen Partei, an-Nahda, und den beiden säkularen Minderheitsparteien der Koalition, "Kongress für die Republik" und "Attakatol" (der Block).
Die Kritik aus dem Lager der Säkularisten
Die säkularen Minderheitsparteien bestanden darauf, dass gewisse an-Nahda-Minister abgelöst würden, die schon vor drei Monaten von Staatspräsidenten Marzouki, dem Gründer des "Kongresses für die Republik", öffentlich als "unfähig" bezeichnet worden waren. Einer von ihnen war der Schwiegersohn des an-Nahda Chefs Ghannouchi gewesen, der damals als Aussenminister fungierte.
Die Koalition war sich auch der Kritik bewusst, die von ausserhalb der Koalitionsparteien gegen sie laut wurde. Diese war seit der Ermordung des Politikers Chokri Belaid vom 7. Februar unüberhörbar geworden. Grosse Teile der Bevölkerung warfen der Regierung vor, für diesen Aufsehen erregenden Mordfall, den ersten politischen Mord der tunesischen Revolution, verantwortlich zu sein. Manche der Kritiker glaubten, die vermuteten Mörder seien von der an-Nahda Partei nicht nur ignoriert, sondern sogar ermutigt worden. Die Witwe des Ermordeten erklärte öffentlich, sie mache an-Nahda für die Untat veranwortlich. "Oftmals wurde in den Moscheen dazu aufgerufen, Belaid zu ermorden", erklärte sie,"die Regierung sah zu und führte keinerlei Untersuchung durch!"
"Duldung?" - "Ermutigung?"
Die sich gegen an-Nahda richtende Verschwörungstheorie lautet, die islamische Partei habe es geduldet, wenn nicht gefördert, dass allerhand gewalttätige, sich "islamisch" nennende Gruppen, die oft unter dem Namen "Komitees zur Verteidigung der Revolution" wirkten, freie Hand erhalten hätten, um Gewalttaten gegen Säkularisten und ihre Parteigänger, Institutionen und Organisationen zu unternehmen. Diese hätten sich dann schrittweise bis zu der Mordaktion gesteigert. an-Nahda habe versucht, die Bevölkerung einzuschüchtern, indem sie Vorkämpfer des Säkularismus beseitigen liess.
Regierungsorgane haben vier Personen festgenommen, die sie der Mitwirkung an dem Attentat beschuldigen. Es soll sich um gewaltbereite Salafisten handeln. Doch die Fahnder geben zu, dass der vermeintliche Hauptschuldige, der eigentliche Mörder, noch nicht aufgespürt sei. Polizei und Armee sollen ihn zur Zeit im algerisch-tunesischen Grenzgebiet suchen.
An-Nahda weist die Vorwürfe heimlicher Duldung zurück. Ihre Sprecher geben allerdings zu, dass die an-Nahda nahestehenden "Komitees zur Verteidigung der Revolution" gelegentlich von radikalen Salafisten infiltriert worden seien. Sie weisen auch darauf hin, dass ihre Regierung einigen Salafisten, die gewalttätig wurden, den Prozesse gemacht und sie zu schweren Strafen verurteilt habe.
Die Verantwortung von an-Nahda
Doch der Mord ist geschehen, Drohbriefe, die an Belaid gerichtet worden waren, machen klar, dass er von radikaler islamischer Seite her kam. Auf an-Nahda bleibt jedenfalls der Vorwurf sitzen, dass sie nicht genügend getan habe, um den geraume Zeit über immer brutaler auftretenden Radikalen das Handwerk zu legen.
Der Mord an Belaid war nur der letzte Fehltritt der an-Nahda Regierung, Gipfelpunkt einer langen Reihe von Fehlern, die nun der Regierung von ihren Gegnern zur Last gelegt werden. Die Kritik umfasst zwei Hauptkomplexe, jenen der Sicherheit und, damit verbunden, die krisenhafte Wirtschaftsentwicklung. Beide Fehlentwicklungen werden nun der Nahda und ihrer bisherigen Regierung zum Vorwurf gemacht.
An-Nahda will nicht von der Macht weichen
Diese verteidigt sich so gut sie kann, indem sie ihrerseits ihre Kritiker anklagt, sie täten alles, was in ihrer Macht stünde, um die Lage der gewählten Regierung zu erschweren und dadurch auch jene des Landes zu schädigen. Doch dass es in Tunis sowohl in Bezug auf die Sicherheit wie in der Wirtschaft eher abwärts als aufwärts gegangen ist, lässt sich schwer leugnen.
Der Ministerpräsident der ausgehenden Regierung, Jebali, hatte nach der Mordtat, die das ganze Land erschütterte, als Ausweg vorgeschlagen, eine Regierung von neutralen Fachleuten zu ernennen, Technokraten, deren Vorsitz er übernehmen wolle. Doch er war auf Widerstand innerhalb seiner eigenen, der an-Nahda-Partei, gestossen wie auch von Seiten der beiden anderen Koalitionsparteien. Im wesentlichen wohl einfach, weil die Hauptpolitiker der drei Parteien, die in den Ministersesseln sassen, nicht zurücktreten wollten.
Die Parteileitungen selbst dürften in einem Verzicht zu Gunsten von Technokraten wohl auch ein allzu deutliches Eingeständniss der eigenen Unfähigkeit, zu regieren, gesehen haben. Ihr Widerstand gegen den Vorschlag des Ministerpräsidenten bewirkte am Ende, dass dieser zurücktrat.
Technokraten in den Hauptministerien
Die an-Nahda Partei betraute den bisherigen Innenminister, Ali Laarayed, mit der Bildung einer neuen Regierung. Doch im Verlauf der komplexen Verhandlungen sah er sich durch den Druck der beiden Minderheitsparteien der Koalition gezwungen, das Konzept des zurückgetretenen Ministerpräsidenten teilweise zu übernehmen. Vier der wichtigsten Ministerien, Aussen-, Innen-, Verteidigungs- und Justizministerium, wurden von nicht parteigebundenen Fachleuten übernommen: Der neue Aussenminster, Othman Jerandi, ist ein altbewährter Diplomat, die neuen Innen-, Verteidigungs- und Justizminister sind Juristen mit akademischen, administrativen und gerichtlichen Karrieren.
Der bisherige Verteidigungsminister, Abdelkarim Zbidi, der schon vor der ersten Koalitionsregierung unter der Führung von Nahda in den postrevolutionären Übergangsregierungen mitwirkte, ist, gegen den Wunsch aller Beteiligten, aus dem Amt geschieden. Er erklärte seinen Rücktritt an einer der oppositionellen TV-Stationen damit, dass er nicht länger bei Regierungen mitmachen wollte, die nicht zielstrebig mit einem klaren Zeitplan daraufhin arbeiteten, dem Land seine endgültigen demokratischen Institutionen zu schaffen.
Die Armee und die innere Sicherheit
Er kritisierte auch, dass die Armee noch immer für die Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung im Inneren Tunesiens eingesetzt werde. Dies, so sagte er, sei nicht ihre wirkliche Aufgabe. Sie sei der Schutz der Landesgrenzen. Die langfristige Verwendung als innere Ordnungsmacht schädige die Armee, weil sie sich nicht der intensiven Ausbildung für diese Hauptaufgabe widmen könne. In den letzten Wochen hat die Armee mehrmals Waffenlager an der algerischen und an der libyschen Grenze entdeckt. Sie fürchtet das Eindringen von bewaffneten Jihadisten aus beiden Nachbarländern.
Die Armeeproblematik hat mit der Polizeiproblematik zu tun. Die tunesische Polizei ist ziemlich unverändert die Polizei des abgesetzten Diktators Ben Ali geblieben. Sie steht noch immer weitgehend unter der Leitung von Funktionären, die unter Ben Ali die Leute der heutigen Regierungspartei verfolgt und gefoltert haben. Ihre Reform hat noch kaum begonnen. Die angespannte Sicherheitslage mit den Aktivitäten der gewalttätigen Salafisten und der oben erwähnten Komitees hat bewirkt, dass die Polizei, unreformiert, so wie sie war, gebraucht und eingesetzt wurde.
37 Regierungsmitglieder bis auf Ende des Jahres
Die neue Regierung besteht aus nicht weniger als 37 Mitgliedern, 27 sind Minister und 10 Staatssekretäre. Darunter befinden sich drei Frauen. 22 der Regierungsmitglieder gehörten der vorausgehenden Regierung an; 15 sind neu und gelten alle als "unabhängig", das heisst, sie sind ohne Parteizugehörigkeit. Der neue Ministerpräsident hat erklärt, als seine Hauptaufgabe sehe er die Festigung der inneren Sicherheit. Er gedenke, bis zu den kommenden Wahlen zu regieren, die noch dieses Jahr stattfinden sollten.
Der Zeitpunkt der Wahlen hängt davon ab, wann die neue Verfassung fertiggestellt sein wird. Wenn dies im Laufe der kommenden sechs Monate erreicht werden soll, muss die Versammlung ihre Arbeit gewaltig beschleunigen.
Das gegenwärtige Parlament wurde als Verfassungsversammlung gewählt. Es ist nun schon seit über einem Jahr an der Arbeit.
Eine blockierte Verfassungsversammlung
Die Verfassung hätte in einem Jahr fertig gestellt werden sollen. Doch die Diskussionen sind blockiert. Eine der ungelösten Grundfragen ist jene des künftigen Regierungssystems. an-Nahda strebt ein rein parlamentarisches System an, mit einem von der parlamentarischen Mehrheit gebilligten Regierungschef. Die Koalitionspartei, Kongress für die Republik, welche der gegenwärtige provisorische Staatspräsident, Moncef Marzouki, gegründet hat, zieht ein präsidiales System vor mit einem vom Volk gewählten Präsidenten als Chef der Exekutive.
Die Verfassungsversammlung leidet auch daran, dass viele ihrer Mitglieder fern bleiben. Die bisherige Beteiliung bei den Verfassungsberatungen soll im Durchschnitt bloss 90 von den 217 Abgeordneten ausmachen.
Eine Mehrheit? - ein Präsident?
an-Nahda hat die Anhängerzahlen, die, so hofft die Partei, erneut für eine Mehrheit im Parlament reichen könnten. Der Kongress für die Repulik verfügt über eine Person, Marzouki, die hoffen kann, sich in Präsidialwahlen durchzusetzen. Der Gründer und Inspirator von Nahda, der Gelehrte Rachid Ghannouchi, zieht es vor, ohne politisches Amt aus dem Hintergrund Einfluss auszuüben.
Ob seine Rechnung allerdings auch künftig aufgehen wird, und seine Partei auch in den künftigen Wahlen eine Mehrheit erreichen kann, bleibt abzuwarten. Die Enttäuschungen über die schlechte Entwicklung der Wirtschaft, die keineswegs den Verheissungen der Partei und noch weniger den Erwartungen ihres Stimmvolkes nachkam, könnte an-Nahda viele Stimmen kosten.
Misstrauen verhindert Zusammenarbeit
Zwar gibt es noch keine Verfassung und noch keinen wirklichen Wahltermin, doch die Vorwahlmanöver haben bereits begonnen, und das lange Ringen um die gegenwärtige Regierung hatte auch damit zu tun. Die Exponenten der beiden Hauptfronten, die säkulare und die islamische, trauen einander wenig. Jeder argwöhnt, dass der andere, wenn er während der Wahlen am Ruder ist, er es dazu benutzt, um den Ausgang der Wahlen für sich zu entscheiden.
Beide Seiten glauben, deutliche Zeichen dafür zu erkennen, dass die Gegenseite auf List und Betrug sinnt. Ein "Wolf im Schafspelz" sagen die einen von Ghannouchi; die Opposition sei nach wie vor von Geldern und Interessen der bisherigen Privilegierten beeinflusst, vermuten die Islamisten. Die Interessen des Landes und seiner Bewohner laufen dabei Gefahr, zu zweitrangigen Anliegen zu verkommen.