Teil 1: Die Kleinstadt, die Juden rettete
Teil 2: "Jeder hatte seine Geschichte, seine falschen Papiere
„Ich heisse René Brus oder Brus, René. Mein Name im Widerstand lautete Brussange.“ So stellt sich der heute 90-Jährige vor, der zu den rund 15 jungen Leuten einer Widerstandsgruppe in den Bergen gehörte, 300 Höhenmeter oberhalb der Schule von Beauvallon. Dem späteren Stadtpolizisten von Dieulefit, einer, für den De Gaulle ein Gott war, kann man heute noch tagtäglich kurz vor Mittag mit Stock und Schirmmütze und stets frisch rasiert auf seinem Gang durch die Altstadt von Dieulefit begegnen. Damals, Ende 1942, war er als 19-Jähriger einem Jugendarbeitslager des Vichy-Regimes entflohen, bei seinem Onkel in der Nähe von Dieulefit untergetaucht und, nachdem ihn die Gendarmen dort gesehen und ein Auge zugedrückt hatten, in den Widerstand gegangen.
Hier landeten Agenten und Waffen
„Dieulefit“, so erzählt René Brus, „war eine wichtige Basis für Fallschirmabwürfe. Hier landeten sowohl Agenten, als auch Material und Waffen. Die Firma Jouve und andere stellten dann ihre Lastwagen zur Verfügung, mit denen man die Sachen weiter transportierte. Die Waffen waren meist unter Holz versteckt. Man brachte sie von hier sogar bis nach Saint-Etienne und ins Nachbardepartement Ardèche, ja sogar bis ans Mittelmeer. Oben auf der Hochebene in Comps war das Gelände, wo viele wichtige Offiziere des Widerstands und Zivilpersonen mit dem Fallschirm gelandet sind. Ich hab ungefähr 50 gezählt, das ist nicht übertrieben."
Das Hochplateau in 700 Metern Höhe oberhalb von Dieulefit ist karges Land, wo Getreide auf steinigen Feldern nur spärlich wächst, Krüppeleichen und Esskastanien die Hügel bedecken, Ziegenherden auf Brachland zu Hause sind und ein einziger Bauer noch Fleischtierhaltung betreibt. Der Blick reicht von hier über dutzende Kilometer nach Norden bis zum Vercors und nach Westen über das Rhônetal hinaus bis zu den Höhenzügen der Ardèche.
Von der Gestapo verfolgt
Das Dorf Comps besteht aus weit verstreuten ehemaligen Bauernhöfen, von denen die meisten heute renovierte Zweitwohnsitze sind. Während der deutschen Besatzung versorgten diese Höfe nicht nur das Internat von Beauvallon unten im Tal mit Essbarem, sondern beherbergten auch den Sender der Widerstandsgruppe und dienten, wenn es sein musste, gefährdeten Schülern aus dem Internat und den per Fallschirm Abgesprungenen als Unterschlupf.
In einem der geduckten Bauernhäuser aus rohem Stein, in der „Ferme du Lauzas“, war damals zwei Jahre lang ein Ehepaar versteckt, das man vorher in Dieulefit nie gesehen hatte. René Brus ist ihm damals häufig begegnet. „Es waren zwei Kommunisten, die von der Gestapo gesucht wurden. Sie haben sich als Ehepaar Bauer und als Elsässer ausgegeben. In Wirklichkeit waren sie gar nicht richtig verheiratet. Eines Tages, nach einem Fallschirmabwurf, ist die Frau mit uns jungen Leuten in einen der Bauernhöfe mitgekommen, wo man uns verpflegt hat. Sie hatte ein harsche Stimme und einen sehr beeindruckenden Blick. Man merkte sofort, dass sie eine starke Persönlichkeit war. Der Mann arbeitete hier viel in den Gärten, half diesen und jenen im Ort. Einmal hab ich im Hof der beiden auch Louis Aragon gesehen. Ich wusste damals aber gar nicht, wer das war.“
Unterschlupf für den damals berühmtesten Schriftsteller
In der Tat hat das Ehepaar Bauer Ende 1942 knapp sechs Wochen lang dem damals berühmtesten Schriftsteller Frankreichs und Mitglied der Kommunistischen Partei, Louis Aragon, sowie seiner Frau, Elsa Triolet, in ihrem notdürftig restaurierten Hof Unterschlupf gewährt - ein Unterschlupf, durch den der Wind pfiff und in dem es vor Ratten wimmelte.
Ein Zusammenleben, das nicht ohne Spannungen abging. Aus späteren Aufzeichnungen der Gastgeber kann man deutlichen herauslesen, dass die Stars der damaligen französischen Literaturszene das Ehepaar wie simples Dienstpersonal und nicht wie Genossen behandelt haben.
Deutsche Kommunisten
Der Historiker Bernard Delpal hat mit Hilfe deutscher Kollegen erst vor wenigen Jahren im Bundesarchiv in Berlin entdeckt, wer dieses angeblich elsässische Ehepaar tatsächlich war.
„Sie waren in der Vorkriegszeit zwei leitende Funktionäre der deutschen kommunistischen Partei gewesen. Ihre echten Namen lauteten: Ella Schwarz und Hermann Nuding. Ella Schwarz war Berlinerin und Nuding kam aus Stuttgart. Sie hatten damals den klassischen Weg der deutschen Kommunisten hinter sich: Sie waren zunächst nach Prag geflohen, dann kam Moskau und die Komintern und eine professionelle Ausbildung zum Untergrundkämpfer, anschliessend waren sie im Spanienkrieg und am Ende in Frankreich. Beide befanden sich nach der Kriegserklärung Ende 1939 in Lyon und wurden erst mal in verschiedenen Lagern eingesperrt."
"Das war", so Delpal, "noch vor der Zeit des Vichy-Regimes, als deutsche, antifaschistische Flüchtlinge von der französischen Republik als potentielle Spione und Mitglieder der 5. Kolonne betrachtet wurden. Beide kamen dann aber irgendwann frei und trafen sich in Lyon wieder.“
Katholische Taufscheine für deutsche Kommunisten
1942 mussten Ella Schwarz und Hermann Nuding, der nach dem Krieg noch zwei Jahre lang für die KPD in Bonn im 1. deutschen Bundestag sass, aber aus Lyon verschwinden. Diesen beiden deutschen Kommunisten wurde damals ausgerechnet von Abbé Glasberg geholfen, dem Chef des katholischen Widerstandsnetzes in der Metropole am Zusammenfluss von Rhône und Saône.
Abbe Glasberg war ein Deutschjude aus Mitteleuropa, der zum Katholizismus übergetreten und in Lyon die rechte Hand von Kardinal Gerlier war, des Primas von Gallien, der wichtigsten Person der katholischen Kirche Frankreichs. Glasberg erreichte bei Kardinal Gerlier, dass man Schwarz und Nuding unter dem Namen Bauer traute und ihnen sogar katholische Taufscheine ausstellte. Und mit dieser Identität ausgestattet schickte Abbé Glasberg sie nach Dieulefit zu Marguerite Soubeyran und bat sie, die beiden zu verstecken.
Deutsche Kommunisten als Ausbildner
Marguerite Soubeyran, die in jener Zeit selbst Sympathisantin der Kommunistischen Partei war, hat Schwarz und Nuding auf dem Hochplateau von Comps untergebracht. „Und dort geschah“, so der Historiker Bernard Delpal, „etwas wirklich Erstaunliches. Obwohl die beiden anfangs kein Französisch sprachen, schafften sie es, sich unter der bäuerlichen Bevölkerung da oben zu integrieren. Ella Schwarz war von Beruf Schneiderin und ging zu den Familien und sagte: "Ich kann ein wenig nähen, ich kann euch eure Kleidung ausbessern" etc.
"Es hat dann nur wenige Monate gedauert", erklärt Delpal, "bis die beiden dann sogar zu den Organisatoren der Widerstandsgruppe von Comps wurden, die eine wichtige Rolle gespielt hat. Denn das Hochplateau dort war von London als Gebiet für Fallschirmabwürfe ausgewählt worden. Die beiden haben die jungen Leute der Widerstandsgruppe ausgebildet, um die abgeworfenen Waffen entgegen zu nehmen und zu verstecken. Sie haben dann den Transport der Waffen organisiert und schließlich haben sie die jungen Leute auch an den Waffen ausgebildet.“
Ein Sender im Taubenschlag des Schlosses
Das Schloss von Comps, mit Grundfesten aus dem 13. Jahrhundert, war einer der Bauernhöfe, auf denen Ella Schwarz - nach dem Krieg Ella Rumpf und Frau des langjährigen DDR-Finanzministers – damals ihre Fertigkeiten als Schneiderin angeboten hat. In ihren schriftlichen Erinnerungen an die Zeit in Dieulefit erwähnt sie eine gewisse „Mutter Riaille“. Die heutige Hausherrin im Schloss, wo Fleischtierhaltung betrieben wird und einige Gästezimmer zur Verfügung stehen, ist dieser „Mutter Riaille“, die 14 Kinder hatte, nach dem Krieg noch begegnet.
„Ich bin nach meiner Heirat 1962 hierher gekommen und hab die alte Großmutter noch gekannt“, sagt Marilou Terrot. „Sie hat mir erzählt, dass sie hier im Schloss einen Sender hatten, der während des Kriegs da oben versteckt war. Sie hat mir auch gezeigt, wo das Versteck war, im Taubenschlag da oben. Und sie erzählte, dass sie sich nicht hatte einschüchtern lassen, als die Deutschen einmal hierher kamen und nach etwas suchten. Sie hat ihnen gesagt, sie sei Mutter von 14 Kindern und basta. Zwei Männer sind mit dem Motorrad gekommen und haben ihr die Pistole an die Schläfe gesetzt, sie hat aber nichts gesagt.“
“Leistet Widerstand“
„Man darf nicht vergessen“, so Marilou Terrot, „dass die Leute hier Protestanten waren. Sie leisteten Widerstand in aller Stille. Diese protestantische Gemeinde hat sich gegenseitig sehr geholfen, sich die Hand gegeben. Die Protestanten erinnerten sich natürlich auch an Marie Durand, die im 18. Jahrhundert im Turm in Aigues Mortes als Protestantin eingekerkert war und damals schon gesagt hatte: ‚Leistet Widerstand!‘ Im Krieg muss man widerstehen, sich helfen, dem anderen zu essen geben oder ihn auch nur anhören, denn die Flüchtlinge waren doch Leute, die sehr gelitten hatten.“
Hermann Nuding und Ella Rumpf sollten – der eine aus der BRD, die andere aus der DDR - bis ans Ende ihres Lebens mit den Bauern auf dem Hochplateau von Comps Kontakt halten. Hermann Nuding ist zum Beispiel 1962 nach Comps zurückgekommen und hat sich mit den Kindern oder mit dem Bäcker im Dorf fotografieren lassen. Im Bundesarchiv in Berlin hat der Historiker Bernard Delpal Dutzende Briefe gefunden, die nach dem Krieg zwischen Nuding und der Bevölkerung des Hochplateaus geschrieben worden waren.
Vorübergehendes Einreiseverbot
“Hermann Nuding”, so Delpal, "hat die Menschen von Comps 1962 sogar zu Hilfe gerufen, weil er als deutscher Kommunist in Frankreich plötzlich Aufenthaltsverbot bekommen hatte. Das war auf Druck von Adenauer geschehen, dem De Gaulle nichts abschlagen wollte. Man hatte Nuding also untersagt, nach Frankreich zurückzukommen. Dieses Einreiseverbot ist letztlich 1963 wieder aufgehoben worden, auch dank der Aktionen der Einwohner von Comps, die eine Art Unterstützungskomitee gebildet und einen französischen Abgeordneten eingeschaltet hatten. Sie sagten laut und deutlich: 'Man wird doch einen grossen deutschen Widerstandskämpfer nicht daran hindern, nach Frankreich zurückzukommen, nur weil er Kommunist ist und dies ausgerechnet im Augenblick der deutsch-französischen Annäherung'.”
“Was da passiert ist”, so der Historiker Delpal weiter, “ist wirklich etwas Aussergewöhnliches. Denn es scheint eigentlich unmöglich, dass zwei wichtige Kader der deutschen Kommunistischen Partei damals so tief gehende Beziehungen mit der bäuerlichen Bevölkerung in diesem Teil Frankreichs knüpfen konnten.“
(Fortsetzung am nächsten Montag, 26. August. Teil 4: Das doppelte Spiel – alle wussten Bescheid, keiner hat denunziert)
Die Radiofassung dieser vierteiligen Serie „Dieulefit – Refugium in Zeiten der Barbarei“ läuft im DEUTSCHLANDFUNK, Dienstag 27.August 2013, „Das Feature“ - 19.15 – 20.00 Uhr.