Keine Überraschungen bei den Landtagswahlen vom 8. Oktober in den zwei benachbarten deutschen Bundesländern Hessen und Bayern. Die regierenden Parteien und Personen haben erwartungsgemäss erneut die Mehrheit errungen. Oberflächlich gesehen ist das so. Doch die Realität sieht anders aus.
In Bayern hat die dort jahrzehntelang als Staatspartei wahrgenommene Christliche-Soziale Union (CSU) unter Markus Söder 37 Prozent der Stimmen gewonnen und könnte (zahlenmässig) locker mit dem schon bisherigen Partner (den Freien Wählern) weitermachen. Und in Hessen bekamen Ministerpräsident Boris Rhein und seine CDU (34,6) mit plus 7,6 Prozent sogar einen überraschend starken Schubs nach oben. Das verschafft ihm die bequeme Position bei den jetzt anstehenden Koalitionsverhandlungen, sich sowohl den noch aktuellen (und wohl auch wieder favorisierten) grünen Partner als auch die arg gebeutelten Sozialdemokraten als Beifahrer aussuchen zu können.
Bei der liberalen Traditionspartei FDP (immerhin einmal Heimat von Personen wie Theodor Heuss, Walter Scheel und Hans Dietrich Genscher) wie bei den kommunistisch verwurzelten Linken herrscht verständlicherweise Katzenjammer. In Bayern flogen die Freidemokraten – wieder einmal – aus dem Regionalparlament, in Hessen schafften sie gerade eben noch den Wiedereinzug. Den Linken hingegen haben die Wähler komplett die kalte Schulter gezeigt. Das ist ganz besonders bitter für deren Bundesvorsitzende Janine Wissler, die selbst aus Mörfelden-Waldorf stammt – einem Ort vor den Toren der Metropole Frankfurt.
Zweidrittel haben «rechts» gewählt
Doch die nüchternen Zahlen vom Sonntag aus den beiden Bundesländern künden keineswegs von einem politischen «weiter so». Sie zeigen unübersehbar, dass sich Deutschland verändert. Dass sich zumindest die politische Stimmung im Land (vielleicht sogar drastisch) zu verändern droht. In Bayern und Hessen hat die (vom Verfassungsschutz als «teilweise rechtsextrem» eingestufte) Alternative für Deutschland (AfD) kräftig Zuspruch erhalten; im Wiesbadener Landtag wurde sie sogar zur zweitstärksten Kraft gewählt. Das ist natürlich psychologische Kraftnahrung für die im Herbst nächsten Jahres anstehenden Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg, wo die Rechtsaussen-Partei schon seit geraumer Zeit bei den Umfragen deutlich dominiert.
Mit anderen Worten: Die von den Kreuzchen auf den Wahlzetteln untermalten Zeichen der Zeit signalisieren, dass die über Jahrzehnte vorherrschende Stimmung im Land zwischen Nordsee und Bodensee, zwischen Rhein und Oder von einer stabilen politischen Mitte in fragwürdiges Fahrwasser abzudriften droht. Früher (wenigstens in und seit den Zeiten des legendären Franz-Josef Strauss) galt zum Beispiel in Bayern als eherne Regel: «Rechts von der CSU darf es keine rechte Kraft geben.»
Das ist vorbei. Mit den Freien Wählern und der AfD sind den Christsozialen mittlerweile sogar zwei Konkurrenten erwachsen. Natürlich sind CSU und Freie Wähler in keiner Weise inhaltlich und ideologisch mit der AfD zu vergleichen. Trotzdem: Zählt man die «konservativen» Stimmen bei diesem Urnengang zusammen, so kommt man auf einen beinahe Zweidrittel-Anteil.
Nasenstüber für Markus Söder
Vor diesem Hintergrund könnte sich die triumphale Aussage des für kernig-nationalistische Sprüche bekannten Parlamentsgeschäftsführers im Bundestag, Bernd Baumann, als durchaus realitätsnah erweisen: «Es bewegt sich etwas in Deutschland. Es weht ein anderer Wind in Deutschland. Und der weht von rechts!»
Das ist nicht nur so von ungefähr dahergeredet. Wenn bei den im Zuge der aktuellen Landtagswahlen durchgeführten Umfragen 80 Prozent der AfD-Wähler angegeben haben, es sei ihnen völlig egal, ob die Partei in Teilen als rechtsextrem eingestuft werde, solange sie die «richtigen Probleme» anspreche, dann beweist das eines: Obschon mit dem einstigen hessischen Geschichtslehrer und thüringischen AfD-Chef Björn Höcke ein ausgewiesener Nazi die Strippen zieht, bekennt sich eine unübersehbar wachsende Zahl von Bürgern inzwischen offen als Sympathisanten. Anders ausgedrückt: Die Alternative für Deutschland ist nicht mehr nur Thema der Stammtische, sondern wird offenkundig von beachtlichen Teilen der Öffentlichkeit als politische Normalität gewertet.
Jubel auf der einen, Fassungslosigkeit auf der anderen Seite. Das gilt auch für CDU und CSU. Ja, beide haben in Bayern und Hessen ihre Spitzenpositionen verteidigt. Trotzdem: In Bayern hat der forsche Ministerpräsident Markus Söder einen kräftigen Nasenstüber abbekommen. Mit nur 37 Prozent Stimmenanteil fuhr er das historisch schlechteste Wahlergebnis der CSU überhaupt ein. Wobei ihm in Hubert Aiwanger und dessen Freien Wählern – besonders sichtbar im Bezirk Niederbayern – ein in Zukunft unangenehmer Konkurrent erwachsen könnte. Doch nicht nur darum sollten sich Christdemokraten und Christsoziale die Dinge genau ansehen, die ihnen von den Wählern soeben beschert wurden.
Watschen für die Berliner Ampel
Denn sowohl das bayerische als auch das hessische Wahlergebnis spiegeln nur bedingt die Stimmung in den Bundesländern wider. Dazu wurden beide Landtags-Wahlkämpfe viel zu sehr von bundespolitischen Themen bestimmt. Hier wie dort stand die von Olaf Scholz’ Berliner Ampelregierung aus SPD, Grünen und FDP geleistete politische Arbeit im Mittelpunkt. Und so war es denn auch in allererster Hinsicht die Berliner Ampel, die beim Wählerentscheid über die Regionalparlamente von München und Wiesbaden abgewatscht wurde.
Kein Wunder, dass vor allem bei den Verlierern der Ärger über die regierenden Parteifreunde an der Spree gross ist. Über deren permanent offenen Streit wegen des Atomausstiegs oder des Schuldenmachens, über das dilettantisch vorbereitete Heizungsgesetz und vieles andere mehr. Am Ende und über alles betrachtet, ist spätestens bei diesen Landtagswahlen allen Politikern schonungslos vor Augen geführt worden, dass den Bürgern in ganz Deutschland ein anderes Thema auf den Nägeln brennt: Die noch immer praktisch unkontrollierte Zuwanderung von Kriegs- und anderen Flüchtlingen aus der Ukraine oder über das Mittelmeer.
Kommunen (vom kleinen Dorf bis zur Grossstadt) rufen seit Langem um Hilfe. Es geht nicht nur um die Unterbringung. Die Schulen sind genauso überfordert wie Kindergärten und Kitas. Die Sozialsysteme drohen ausser Kontrolle zu geraten. Nicht wenige machen sich Sorgen um die Innere Sicherheit, und ebenso vielen wird bang beim Gedanken an etwaige Abstiege aus der eigenen Komfortzone.
Auch hier sprechen die Landtagsergebnisse eine beredte Sprache: Es waren gar nicht die Älteren und Alten, die bei den rechten Populisten und Vereinfachern ihr Kreuzchen machten, sondern mit hohen Zuwachsziffern die 19- bis 30-Jährigen – also die Generationen der «Erben». Lange Zeit höchstens am Rande erwähnt und am liebsten bei Debatten ausgeklammert («Wer von Asylrechtsproblemen oder Migrationskrise redet, betreibt das Spiel der rechten ´Rattenfänger`»), übertrafen sich noch am Wahlabend nicht nur Vertreter der Union, sondern auch jene mit Besserungs-Gelöbnissen, die in erster Linie im Bund für Lösungen zuständig sind. Also Sozial- und Freidemokraten sowie Grüne.
Die simplen Parolen haben verfangen
Doch, wie zu sehen, haben die simplen Parolen der Rechtsaussen-Partei in weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit verfangen. Mag vielleicht sogar in deren Kreis manch einem bewusst sein, dass zum Beispiel «Null-Zuwanderung» (Baumann) in einem offenen Land völlig unmöglich ist, zumal die Wirtschaft immer lauter nach Arbeitskräften sucht, applaudieren tut er trotzdem. Je unübersichtlicher und komplizierter die Probleme sind, desto mehr hoffen die Menschen auf einfache Antworten und klare Lösungen. Das ist keineswegs nur in Deutschland der Fall, wie der Blick über die Grenzen, etwa nach Polen und Ungarn, aber auch nach Italien, Frankreich oder Österreich zeigt.
Nicht nur die in der Berliner Ampel zentrierten Parteien stecken jetzt in einer unangenehmen Zwickmühle. Auch die Unions-Opposition im Reichstag an der Spree tut das. Und die AfD kann weiterhin einfach händereibend beiseitestehen. Denn: Verharren (vor allem die Grünen) in ihren bisherigen unentschlossenen Positionen in Sachen ungebremster Zuwanderung, so wird das weitere Stimmen für die AfD bringen.
Hatte nicht deren Ehrenvorsitzender Alexander Gauland schon 2015 gejubelt. «Die Flüchtlingswelle ist für uns ein Gottesgeschenk»? Wird hingegen die Bundesregierung, mit oder ohne CDU/CSU und «Deutschlandpakt», unter dem Druck der Verhältnisse plötzlich drastische Gegenmassnahmen beschliessen, bleibt mit Sicherheit (auch medial) das Echo nicht aus: «Seht her, die AfD hatte doch Recht.» Die vor dem Land liegende Wegstrecke sieht holprig aus. Nicht nur wegen Bayern und Hessen.