Das Bruttoinlandprodukt (BIP) informiert über den Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen, die innerhalb des Jahres in einem Land hergestellt werden. Dumm nur, dass dabei 40 Prozent der effektiven Wirtschaftsleistung unberücksichtigt bleiben. Noch immer gilt das BIP als wichtigste Vergleichszahl, um die Gesamtleistung einer Volkswirtschaft mit anderen Ländern zu messen und zu vergleichen. Diese Zahlen sagen jedoch nichts aus über den effektiven Wohlstand einer Nation, geschweige denn über die umwelt- und nachhaltigkeitsrelevanten Daten, die immer wichtiger werden.
Zwar sind Bemühungen im Gang, andere Leistungen (zum Beispiel die unbezahlte Haushaltsarbeit) bei einer Revision einzubauen. Doch einfach dürfte das nicht werden.
BIP-Vergleich der Länder
Für das Jahr 2021 zeigt die offizielle Statistik des Internationalen Währungsfonds (IWF) – eine rechtlich, organisatorisch und finanziell selbständige Sonderorganisation der Vereinten Nationen mit Sitz in Washington, D.C., USA – die Schweiz auf Platz 21 beim nichtkaufkraftbereinigten Ländervergleich: 799’796 Mio. US-Dollar haben die Statistiker für unser Land errechnet. Auf den ersten Plätzen stehen die Vereinigten Staaten mit 22’996’075, China 17’744’640, Japan 4’932’556 Mio. US-Dollar.
Dieses Ranking ist angesichts der Grösse unseres Landes eine beachtliche Leistung. Beim Vergleich des BIP pro Einwohner steht die Schweiz weltweit gar an dritter Stelle. Dazu tragen der Dienstleistungssektor 74 Prozent, die Industrie 25 Prozent und die Landwirtschaft knapp ein Prozent bei. Auf Platz eins steht hier Luxemburg, gefolgt von Irland.
Ermittelt werden diese Zahlen, indem der Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen innerhalb der Landesgrenzen während eines Jahres errechnet und davon die Vorleistungen abgezogen werden.
Verkehrsunfälle erhöhen das BIP
Die Kritik am BIP ist alt. Da nur erfasst wird, was in Zahlen gemessen werden kann, bleiben seit jeher jene Leistungen unberücksichtigt, die auf diese Weise nicht klar zu nennen sind. Am meisten zu denken gibt wohl die Arbeit im Haushalt – mehrheitlich von Frauen erbracht. Je länger je mehr fragen wir uns doch, welchen Wert Putzen, Abwaschen, Staubsaugen, Kinder betreuen usw. im Haushalt hat. Nimmt man den oben erwähnten Wert für unser Land, so wären rund 40 Prozent nicht erfasst, also über 400 Millionen US-Dollar.
Werden solche Tätigkeiten dagegen extern vergeben – Beispiel Kita für die Kinderbetreuung oder Reinigungsarbeiten an professionelle Institute –, sind die relevanten verrechneten Beträge im BIP eingeschlossen. Diese Mängel sind längst erkannt; so hat das Bundesamt für Statistik (BfS) schon vor rund 25 Jahren damit begonnen, Arbeiten wie Abwaschen, Tischdecken usw. mit 36 Franken, Kinderbetreuung hingegen mit rund 56 Franken pro Stunde anzurechnen (NZZ). Damit ist ein wichtiges Anliegen – vor allem der Frauen, die nach wie vor die Hauptlast dieser Haushaltarbeiten verrichten –, zumindest ergänzend zum BIP berücksichtigt.
Andererseits tragen Verkehrsunfälle als erbrachte und verrechnete Leistung der Reparaturwerkstätte zum BIP bei, wo hingegen Naturkatastrophen und Umweltzerstörung, Nachbarschaftshilfe, Handel mit gebrauchten Konsumgütern auf Flohmärkten, Tauschbörsen oder Internet-Plattformen (z. B. eBay, Tauschticket) nicht erfasst werden.
Neue Ideen sollen Mängel beheben
Natürlich haben auch viele Politiker und Politikerinnen solche Mängel realisiert. So hat US-Präsident Joe Biden seine Statistikbehörden damit beauftragt, mit einem neuen Natural Capital Account das ökologische Kapital in die Berechnungen einzubeziehen. Am Beispiel (Regen-)Wald heisst das: Werden Baumstämme verkauft, so erscheint dies wie bisher als Plus; werden die gerodeten Stellen jedoch nicht wieder aufgeforstet, bewirkt das ein Minus (Aufzehrung des natürlichen Kapitals).
Dies ist ein begrüssenswerter Fortschritt, wenn man bedenkt, dass der frühere US-Präsidentschaftskandidat Robert Kennedy bereits 1968 meinte, das BIP messe alles, nur nicht das, was das Leben lohnend mache. Wenn man berücksichtigt, dass das BIP in den 1930er-Jahren konzipiert wurde, um den Wohlstand der Nationen zu berechnen, ist neben den erwähnten Mängeln doch auch festzustellen, dass das BIP bis heute ein verlässliches Konjunkturbarometer darstellt. Es ermöglicht, Wirtschaftsboom und Rezession in den einzelnen Ländern zu vergleichen.
Wohlfahrtsindikatoren und Human Development Indes (HDI)
In Ergänzung zum Biden-Vorschlag listet die NZZ am Sonntag weitere Verbesserungsmöglichkeiten auf, um die Einseitigkeit des BIP zu ergänzen. So erfasst das BfS seit 2016 für die Schweiz – neben den Kennzahlen des Pro-Kopf-BIP – ein ganzes System von total 45 weiteren relevanten Indikatoren wie z. B. die Qualität des Grundwassers, Lebenserwartung, Armutsquote oder das Vertrauen in politische Institutionen.
Auch der Human Development Index der Uno (HDI) bezweckt seit 1990, Statistiken aus verschiedenen Lebensbereichen zu einer einzigen Messzahl zu vereinen: so die Bildung, Lebenserwartung und das Einkommen. Doch auch hier stellen sich Fragen wie jene, warum die Umwelt im HDI nicht vorkommt.
Alle diese Verfahren sind begrüssenswert – mehr Qualität statt Quantität zu erfassen, ist eine der Erkenntnisse des 21. Jahrhunderts, die immer mehr Gewicht erhält. Das Nachhaltigkeitselement war 1930 noch gar kein Diskussionsthema. Es ist mittlerweile wichtiger als die auf eine Kommastelle errechneten BIP-Werte.