In der Welt knistert es. Hier und da sind bereits Kriege ausgebrochen, woanders handelt es sich nur um eine Frage der Zeit bis zur militärischen Konfrontation. Es ist, als ob eine neue kollektive Bereitschaft zur Gewalt die Mentalitäten der Völker ergriffen hätte. Das wäre erklärungsbedürftig.
Gibt es so etwas wie kollektive Mentalitäten, die weltweit – in ganz ähnlicher Weise wie Individuen – stimmungsmässigen Schwankungen unterworfen sind? Mal aggressiv, mal liebenswürdig, mal euphorisch, mal depressiv? Diese Frage ist so spekulativ, dass sich bislang nur Science-Fiction-Autoren an sie herangewagt haben. Isaac Asimov hat mit seinem Roman «Die Psycho-Historiker» die bis heute entscheidenden Markierungen gesetzt. Er hat nicht nur gefragt, ob sich solche Schwankungen in den kollektiven Psychologien feststellen lassen, sondern ob Wissenschaftler sie auch berechnen und vorhersagen können.
Trend und Gegentrend
Zurück in der Gegenwart lassen sich einige erstaunliche Beobachtungen anstellen. So gab es in den 1960er Jahren weltweit eine Protestbewegung, die auf Nonkonformismus und Freiheit zielte und selbstverständlich jede kriegerische Gewalt ablehnte. Amerikanische Studenten waren die Vorreiter, und deren Protestsongs und Friedensdemonstrationen waren ein mächtiger Antrieb für ähnliche Proteste in Frankreich, England, Deutschland und – abgeschwächt – auch in dem einen oder anderen osteuropäischem Land. Sogar Japan wurde davon ergriffen. In unterschiedlichsten Kulturen wurden plötzlich ganz ähnliche Impulse dominant. Wie war das möglich? Welche Kräfte haben im Sinne einer noch zu erstellenden «Psychohistorie» ihre Wirkung entfaltet?
Derzeit ist eine Gegenbewegung im Gang. Weltweit breiten sich fundamentalistische und rechtspopulistische Bewegungen aus. Es scheint so etwas wie psychische Pendelbewegungen zu geben. Dafür gibt es neben zahlreichen anderen zwei herausragende historische Beispiele: der Westfälische Frieden und das Ende des Zweiten Weltkriegs. Beide Zäsuren sind mit der Frage verknüpft, warum es nach Jahrzehnten heilloser Gewalt zu einem bestimmten Zeitpunkt gelang, auf den Weg des Friedens zurückzufinden.
Friedensschlüsse
In seiner umfangreichen Studie zum Dreissigjährigen Krieg beschreibt Herfried Münkler, wie unwahrscheinlich der westfälische Friedensschluss war. Es gab einfach zu viele Kriegsparteien samt ihren Gewaltunternehmern mit ihren eigenen Interessen, und es gab das grosse Misstrauen aller gegen alle. Nach vielen vergeblichen Mühen aber gelang es, diese Hürden zu überwinden und eine Art von tragendem Konsens herzustellen, der schliesslich den Friedensschluss ermöglichte.
Und der Historiker Ian Kershaw gibt am Ende seiner Studie über den Zweiten Weltkrieg «To Hell and Back», deutsch «Der Höllensturz», seiner Verwunderung darüber Ausdruck, dass es den heillos verrotteten und dysfunktionalen Gesellschaften Europas gelang, nach den mehr als dreissig Horrorjahren des Ersten und Zweiten Weltkriegs – die aus heutiger Sicht im Grunde ein einziger grosser Krieg an unterschiedlichsten Schauplätzen waren – nicht nur einen Frieden unter dem massiven Einfluss der Amerikaner zu schliessen, sondern neue Wege zu einem geeinten Europa zu beschreiten. Beide Male ist etwas geschehen, was vorher lange Zeit als unmöglich erschien.
Um so erschreckender ist es, derzeit zu erleben, wie sich weltweit nicht nur die Konfliktherde vermehren, sondern ganz offensichtlich auch in den kollektiven Psychen die Bereitschaft wächst, diese anzufachen. Es ist, als hätte die Menschheit den Glauben an den Frieden verloren. Diesen Glauben gab es einmal, wie die weltweiten Friedensbewegungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eindrucksvoll, gerade auch kulturell, zum Ausdruck brachten.
Es ist ganz sicher kein absichtsvoller böser Wille, der dabei sein Unwesen treibt. Auch die fundamentalistischen Bewegungen weltweit lassen sich nur indirekt für die wachsende kriegerische Mentalität verantwortlich machen. Denn ihre Parolen und Praktiken müssen auf eine entsprechende Disposition stossen: die Bereitschaft von Gesellschaften, ihnen Glauben zu schenken und ihnen zu folgen, anstatt sich gegen sie zu wenden.