„Le Monde“ war sein Vorbild: Qualität und Einfluss seiner Zeitung sollten immer dem Pariser Beispiel folgen. Deshalb nannte er seine Tageszeitung „Keyhan“: die Welt, das Universum, der Globus.
Die vierziger Jahre als Dekade der Freiheit
Der Zeitungsgründer war ein gebildeter Mensch, verstand sich als Vollblutjournalist und kannte sich in der Welt sehr gut aus. Der zweite Weltkrieg war in Europa in vollem Gange, als in Teheran am 1. Februar 1942 die Zeitung „Keyhan“ das Licht der Welt erblickte. Das Weltkriegschaos hatte längst den Iran erreicht. Und es schuf viele Freiräume für allerlei Abenteurer – auch für Journalisten und politische Gruppierungen. Es klingt daher für viele Europäer merkwürdig, wenn Iraner die vierziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts eine Dekade der Freiheit nennen.
Wahrscheinlich war es eine Freiheit im Chaos. Es dauerte jedenfalls bis 1953. Dann setzte auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs ein vom CIA inszenierter Putsch dieser Dekade von Chaos und Freiheit ein Ende. Die USA sagten später, der Putsch habe einen „drohenden Kommunismus“ im Iran abgewendet. Der erste frei gewählte Ministerpräsident des Iran wurde jedenfalls gestürzt, was sich im Volksgedächtnis für immer und unauslöschlich einprägte.
Das grösste Verlagshaus im Mittleren Osten
Doch die „Keyhan“ überlebte den Putsch. Und sie wurde sogar immer beliebter. Denn zwischen den Zeilen konnte man lesen, wie sich die Blattmacher bemühten, immer mehr Distanz zu den Mächtigen zu gewinnen. Manchmal kamen sogar landesweit bekannte Oppositionelle in der Zeitung zu Wort.
Im Revolutionsjahr 1978/79 verwandelte sich die „Keyhan“ praktisch in ein Sprachrohr der Revolution, die allen Journalisten des Landes mehr Freiheit versprach. Der Zeitungsgründer erkannte sehr früh die Zeichen der Zeit und verliess das Land schon Anfang 1978. „Keyhan“ war zu dieser Zeit mehr als eine Zeitung. Der Name stand für das grösste Verlagshaus des Nahen Ostens mit etlichen Publikationen und mehreren Buchverlagen für allerlei Geschmack und Interessen.
Spiegel der Revolutionsgeschichte
Schon in den ersten Stunden des Umsturzes bemächtigten sich die Revolutionäre der Redaktion der Tageszeitung „Keyhan“ in einem mehrstöckigen Hochhaus im Zentrum der Hauptstadt. Denn auf „Keyhan“ konnte man keineswegs verzichten. Sie war die berühmteste Tageszeitung des Landes und zugleich ein wichtiges und mächtiges Verlagshaus. „Keyhan“ – ein ideales und sehr geeignetes Propagandainstrument für die neuen Machthaber.
Und nun, fast vierzig Jahre danach, kann man am Beispiel dieser Zeitung die Geschichte der islamischen Revolution studieren. Nicht nur die Artikel, sondern auch die Schicksale ihrer Journalisten spiegeln die verschiedenen Phasen dieser dramatischen und blutigen Revolution wider. Sie zeugen davon, wie sich die Hoffnungen sehr bald in Enttäuschungen verwandelten, wie Reporter und Redakteure entlassen, verhaftet und hingerichtet wurden, und wie ihr jetziger Chefredakteur zu einer unantastbaren Institution aufstieg.
Der Mann mit der Betonsprache
Hossein Shariatmadari heisst er und besitzt eine klare und harte Sprache, die das deutsche Nachrichtenmagazin Spiegel einmal mit Beton verglich. Die Kommentare des Siebzigjährigen sind oft gespickt mit Hintergrundinformationen. Sie gelten gemeinhin als die wahre und eigentliche Meinung von Revolutionsführer Ayatollah Ali Khamenei.
Shariatmadari sitzt bei fast jeder öffentlichen Audienz Khameneis in der ersten Reihe. Er hat für den mächtigsten Mann des Landes die Bezeichnung „Herr“ eingeführt, die inzwischen von allen prinzipientreuen Medien und Freitagspredigern benutzt wird. Das Wort „Herr“ assoziiert im Persischen Vater, Feudalherr und Besitzer der uneingeschränkten Souveränität. In Shariatmadaris Verständnis allerdings ist Khamenei der Imam, angelehnt an Ali, den ersten Imam der Schiiten.
Khameneis inoffizieller Sprecher
Shariatmadari war Vizeminister des Geheimdienstes, als Khamenei ihn vor 25 Jahren zum herausgebenden Chefredakteur von „Keyhan“ ernannte. Er hat direkten Zugang zu den dunkelsten Ecken des iranischen Machtlabyrinths.
Wenn jemand wissen will, wie Ayatollah Khamenei die Welt sieht, soll er „Keyhan“ lesen, vor allem dann, wenn Khamenei schweigt oder sich in der Öffentlichkeit doppeldeutig äussert.
Denn „Keyhan“ weiss, wohin die Reise gehen soll. Oft agiert die Zeitung als Vorbote dessen, was die Hardliner in den Sicherheitsapparaten tun wollen, ob sie etwa eine neue Verhaftungswelle planen, bestimmte Zensurmassnahmen durchführen wollen oder eine Änderung der Aussenpolitik anstreben.
Nun ist es wieder Zeit, „Keyhan“ genauer zu studieren. Die Alarmglocken sind unüberhörbar. Zwischen Riad und Teheran könnten nach monatelangen martialischen Worten bald mörderische Taten folgen. Oder ist es schon eine echte Kriegserklärung, was Tuki Al Maleki am 5. November im saudischen Fernsehen verlas? Er ist der Sprecher eines von den Saudis geführten Militärbündnisses, das seit zweieinhalb Jahren gegen die Huthi-Rebellen im Jemen kämpft.
„Der Iran gefährdet den Weltfrieden“
Der Iran habe gerade einen Akt der Aggression gegen ein Nachbarland vollzogen, „der den Frieden und die Sicherheit in der Region gefährdet“, sagte Maleki in trockenem und vieldeutigem Ton. Es ging um eine Rakete aus dem Jemen, die wenige Stunden zuvor dem Flughafen in Riad gefährlich nah gekommen war. Diese Rakete sei iranischen Ursprungs gewesen und somit sei der Raketenbeschuss ein „Akt der iranischen Aggression“, so der saudische Militärsprecher.
Auf der Eskalationsskala gibt es kaum noch Stufen nach oben. Parallel zu dieser „Kriegserklärung“ nehmen die Rivalitäten zwischen Teheran und Riad in der gesamten Region gefährliche Züge an.
Vollblockade gegen den Jemen
Seit einer Woche befindet sich der Jemen unter einer Totalblockade der Saudis. Nichts darf aus dem Ausland dorthin gelangen, nicht einmal Nahrungsmittel oder Medikamente. Selbst Hilfsorganisationen sind von dieser Strafaktion betroffen: Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) konnte nach eigenen Angaben eine Ladung Chlortabletten nicht einführen. Diese werden zur Trinkwasseraufbereitung genutzt und im Kampf gegen Cholera gebraucht. Im Jemen sind bereits 900’000 Menschen an Cholera erkrankt. Das IKRK rechnet nun damit, dass es bis Jahresende eine Million sein werden.
Hinzu kommen nach Angaben der Vereinten Nationen sieben Millionen Menschen, die von Hunger bedroht sind. Der Uno-Nothilfekoordinator Marc Lowcok warnt vor der „grössten Hungersnot, die die Welt seit Jahrzehnten erlebt hat“. Die Lage sei nicht einmal mit der im Südsudan oder in Somalia vergleichbar. Am Montag hiess es, die Saudis wollten die Vollblockade aufheben, doch nur für ihre Verbündeten und die Hafenstadt Aden.
Ende des Stillhalteabkommens im Libanon
Die Saudis drehen die Eskalationsschraube weiter. Nach dem Jemen kommt nun der Libanon an die Reihe. Fast gleichzeitig mit dem Raketenbeschuss aus dem Jemen verkündete der libanesische Ministerpräsident Saad Hariri seinen Rücktritt – im saudischen Fernsehen. Das war mehr als eine Rücktrittserklärung. Es war zugleich das Ende eines Stillhalteabkommens zwischen dem Iran und Saudi-Arabien über den Libanon.
Diese unausgesprochene Übereinkunft war für das Land existentiell. Sie führte zu einer Art nationalen Versöhnung. Mit ihr hielt sich der Libanon vom syrischen Bürgerkrieg fern, der Sunnit Hariri wurde Ministerpräsident, der schiitische Hizbullah trat auf Geheiss Teherans in seine Regierung ein. Dieses Stillhalteabkommen ist nun Geschichte. Hariri hat inzwischen aus seiner saudischen Residenz ein zweites TV-Interview gegeben. Doch das bedeutet nicht das Ende der gefährlichen Krise. Er bestreitet, von den Saudis zum Rücktritt gezwungen worden zu sein, verspricht, bald in den Libanon zurückzukehren, und wiederholt seine Vorwürfe gegen den Iran und den Hizbullah.
Ein umfassender Krieg
Der libanesische Konflikt kann sich zu einem Flächenbrand für die gesamte Region entwickeln. Er kann zu einem ganz grossen Krieg verkommen, in den Syrien, Israel und der Iran direkt involviert werden. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat nie Zweifel daran gelassen, wo er in diesem Drama stehen will. „Ich habe unsere Freunde, in erster Linie Washington sowie unsere Freunde in Moskau, darüber informiert, dass wir in Syrien, auch in Südsyrien, in Übereinstimmung mit unserer Vorstellung und den Bedürfnissen unserer Sicherheit handeln werden“, zitierte der staatliche israelische Radiosender Kan Netanjahu, der am vergangenen Montag vor den Mitgliedern der Parlamentsfraktion der Regierungspartei Likud gesprochen hatte.
Was tut nun die Islamische Republik? Gibt es eine iranische Aussenpolitik? Die Antwort ist: Wir wissen es nicht. Welche Signale kommen aus Teheran? Unterschiedliche und widersprüchliche. Und welches dieser Signale sollte man ernst nehmen? Die Antwort lautet: Lest „Keyhan“! Sie ist die Stimme des harten Kerns der iranischen Macht.
Am Tage nach dem Raketenbeschuss lobte Keyhan auf ihrer Titelseite den Raketenangriff auf Riad und kündigte als nächstes Ziel Dubai in den Vereinigten Arabischen Emiraten an.
Die Schlagzeile, die Kriegsstimmung
Nach dieser Schlagzeile der Zeitung diskutierten Millionen in den sozialen Medien plötzlich nicht mehr über das Ob, sondern über das Wann des grossen Krieges. Denn „Keyhan“ nimmt man aus Erfahrung sehr ernst. Kriegsgefahr spürte man überall, Nervosität war greifbar, auf dem Teheraner Schwarzmarkt stieg der Kurs des Dollars.
Das war zu viel und zu früh, selbst für iranische Verhältnisse. Ein Sprecher des iranischen Aussenministeriums sah sich gezwungen einzugreifen. Die Schlagzeile in „Keyhan“ gefährde das nationale Interesse, erklärte er, doch Herausgeber Shariatmadari fragte am nächsten Tag in seinem Leitartikel süffisant, was mehr im nationalen Interesse sei: die Unterstützung des unterdrückten jemenitischen Volkes oder die Hochhäuser in Dubai?
Nach einer Entscheidung des nationalen Sicherheitsrats durfte „Keyhan“ dann zwar zwei Tage lang nicht erscheinen, doch die Frage, die die Zeitung gestellt hatte, ist für die Islamische Republik eine lebenswichtige. Um jeglichen Verdacht der Schwäche von sich zu weisen, schickte einen Tag später Irans Präsident Hassan Rouhani eine deutliche Warnung an Saudi-Arabien: „Ihr kennt die Macht und die Stellung der Islamischen Republik. Mächtigere Leute als ihr haben nichts gegen das iranische Volk ausrichten können.“ Die USA und ihre Verbündeten hätten „alle ihre Kräfte mobilisiert“ und doch nichts erreichen können.
Schlafwandelnd in Richtung Krieg
In Teheran wie in Riad befeuern mächtige Kreise die Kriegszüge, die aufeinander zurasen. Und äussere Mächte wie die USA und Israel heizen mit. Ob ein Krieg die mächtigen Männer – Mohammad Ben Salman in Riad und Ali Khamenei in Teheran – tatsächlich mächtiger macht, ist mehr als zweifelhaft. Sie könnten mit dem Krieg auch ihre ganze Macht verlieren.
Es waren Tage der Schlafwandler – so werden höchstwahrscheinlich künftige Historiker unsere Tage beschreiben. Originell wird diese Idee nicht sein. Denn schon einmal nannte man einen weltzerstörerischen Krieg den Waffengang der Schlafwandler. Das war 1914, einhundert Jahre zuvor.
„Schlafwandler – Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“, lautet der deutsche Titel eines Sachbuchs des australischen Historikers Christopher Clark. Clarks Kernthese lautet: Keine europäische Macht wollte damals tatsächlich den Krieg, alle kriegsführenden Mächte glitten wie Schlafwandler hinein.
Ein Krieg mit dem Iran wird alle Pläne zunichte machen, die der ehrgeizige saudische Prinz Mohammad Ben Salman für sich selbst und für sein Land entworfen hat. Und in Teheran mag Khamenei omnipotent sein, doch das Land ist weder wirtschaftlich noch militärisch in der Lage, einen Krieg gegen Saudi-Arabien zu überstehen. Nicht nur, weil die Saudis modernste Waffen im Wert von Hunderten Milliarden Dollar aus allen Teilen der Welt horten. Auch halten Israel und die USA demonstrativ ihre schützenden Hände über die Saudis. Wenn Mohammad Ben Salman und Ali Khamenei trotzdem in den Krieg ziehen, dann tun sie das als Getriebene.
Mit freundlicher Genehmigung übernommen von Iranjournal.org