Der Generalstabschef Tunesiens, Rachid Ammar, ist der Armeekommandant, der dem Diktator Ben Ali am 13. Januar 2011 klarmachte, er werde nicht auf die tunesische Bevölkerung schiessen. Ben Ali entliess ihn. Doch die Armee stellte sich hinter ihn, und am 14. Januar musste Ben Ali Tunesien verlassen. Ben Ammar ist seither nur einmal während der tunesischen Revolution öffentlich aufgetreten. Das war am 24. Januar 2011, als er der aufgebrachten Bevölkerung jener Tage versprach, er und die Armee stünden hinter der Revolution und würden dafür sorgen, dass sie ihre Ziele erreiche. Sie würden nicht zulassen, dass konterrevolutionäre Kräfte sie abwürgten. Seither hat er geschwiegen.
Ausführliche Warnung und Rechtfertigung
Doch seinen Rücktritt gab er nun in einem dreistündigen TV-Interview bekannt, in dessen Verlauf er unter anderem erklärte, er habe das Ansuchen, Präsident Tunesiens zu werden, abgelehnt «im Interesse des Landes». Dies muss in den kritischen Tagen nach dem Sturz Ben Alis gewesen sein.
Er kam auch auf die Kritik zu sprechen, der er in den letzten Wochen ausgesetzt war. Es ging dabei um die Kämpfe gegen islamistische Terroristen im Jebel Chaambi, nah an der algerischen Grenze, die schon über einen Monat andauern. Die Terroristen, die wahrscheinlich aus Algerien infiltriert waren, hatten Minen in diesen unwegsamen Berggebieten gelegt. Die tunesische Armee versuchte sie zu vertreiben und die Minen unschädlich zu machen. Sie erlitt dabei Verluste an Toten und Verwundeten durch die Minen.
Infiltration an der algerischen Grenze
Die lange Dauer der Operationen veranlasste einen der tunesischen Politiker, Muhammed Abbou, den General öffentlich zu kritisieren und seinen Rücktritt zu fordern. Andere verteidigten ihn. Er selbst erklärte in seiner Rücktrittsrede, das Fehlen eines brauchbaren zivilen Informationsapparates sei schuld an den Schwierigkeiten, welche die Armee im Jebel Chaambi erfahren habe. «Es gab in Tunesien Minenfabriken, die seit einem Jahr arbeiteten, ohne dass wir es wussten», erklärte er. Er sagte jedoch auch, die Terroristen, «die im Jebel Chaambi Ausbildungsstätten betrieben», hätten sich nun abgesetzt. Wenn es immer noch Unruhen gebe, seien diese auf Personen zurückzuführen, die von innerhalb Tunesiens wirkten.
Er dürfte damit auf die verschiedenen Salafistengruppen angespielt haben, die in Tunesien versuchen, das bestehende Regime zu erschüttern, weil es ihnen als nicht genügend islamisch erscheint.
Die Sorgen Rachid Ammars
Der General zeigte sich besorgt über die Zukunft des Landes. Seine Sorgen raubten ihm den Schlaf, sagte er. Er meinte sogar, eine «Somalisierung» Tunesiens könne nicht ausgeschlossen werden. Das Land sei einem dreifachen Ansturm ausgesetzt, der auf Schmuggel, organisierter Kriminalität und Subversion beruhe.
Die Spaltung der tunesischen Gesellschaft in zwei feindliche Lager beunruhige ihn, besonders weil es Gruppierungen gebe, die versuchten, aus dieser Dauerkonfrontation zwischen den Hauptkräften des Landes, Gewinn zu schlagen und das ganze Land ins Verderben zu ziehen. Damit dürfte er auf die salafistischen Aktivisten angespielt haben, die sich bereit zeigen, auch mit gewalttätigen Mitteln gegen die mühsam entstehende neue Ordnung Tunesiens vorzugehen. Seiner Ansicht nach stehen sie in Verbindung mit AQIM, der Qaeda-Filiale in der Sahara.
Eine schwache Armee unter Doppelbelastung
Die tunesische Armee, nur etwa 40’000 Mann, ist unter Ben Ali absichtlich vernachlässigt worden. Sie gilt als schlecht ausgerüstet und kaum ausgebildet. Sie besitzt 24 Helikopter, doch diese sind so alt und ausgeleiert, dass sie «täglich repariert werden müssen» und mehrmals Abstürze zu verzeichnen waren. Es gibt einige Elitetruppen, doch das Gross der Soldaten sind Ausgehobene, die als kaum ausgebildet gelten. Ben Ali hielt die Armee an den Grenzen und fern von den Machtzentren. Die Polizei baute er aus und verwendete sie als sein Hauptinstrument für Kontrolle und Sicherheit.
Nach der Revolution, als die Polizei abbröckelte, wenn sie sich nicht sogar der Gegenrevolution zur Verfügung stellte, trat die Armee an ihre Stelle und fand sich so in der doppelten Verantwortung: für die Sicherheit an den Grenzen und für Ruhe und Ordnung im Landesinneren.
Die Grenzen sind heikel geworden, weil in Libyen immer noch ein grosser Waffen-Schwarzmarkt besteht, zusammen mit Milizen, die keiner wirklichen Regierungskontrolle unterstehen. Zudem leidet Algerien, vor allem in seinen weiten Saharagebieten, erneut unter Unsicherheit, wie der Überfall auf das Gasfeld von In Amenas vom vergangenen Januar deutlich gemacht hat.
Politische Intentionen?
In Tunis herrscht Rätselraten über die Hintergründe des plötzlichen Rücktritts. Der General sagte zwar, sein Rücktritt erfolge aus Altersgründen. Doch die Feinde Ghannouchis und seiner Nahda Partei sahen sofort die Hand der Islamisten am Werk. Sie glauben oder geben zu glauben vor, der General sei abgesetzt worden, «um Nahda zu erlauben, ihren eigenen Generalstabschef einzusetzen». Doch wer dieser vermutete Kandidat der Nahda sei, wissen sie nicht zu sagen.
Es gibt auch schon Websites und Twitter-Aufrufe, die dafür werben, dass Rachid Ammar sich zum Präsident einsetzen lasse, denn das Land brauche endlich eine kräftige Hand. Einige Kommentatoren deuten an, der Rücktritt könne bedeuten, dass der General nun in die Politik einsteigen werde. «Er positioniert sich à la de Gaulle», fanden manche. Vorläufig sind dies alles nur Reaktionen der ersten Stunde. Ob etwas und was weiter geschehen könnte, ist noch völlig offen.
Streit blockiert die Verfassung
Tatsache ist, dass das Land sich blockiert sieht. Die Verfassung, deren Vollendung in erster Version schon angezeigt worden war, ist Gegenstand einer gerichtlichen Klage geworden, weil einige der säkularen Oppositionsgruppen der Ansicht sind, der Entwurf sei in unrechtmässiger Art von den Hauptredaktoren der Verfassungskommission, die zur Nahda gehören, niedergeschrieben worden, ohne dass sie Gelegenheit erhalten hätten, ihre Einwände und Reserven gebührend vorzubringen.
Dieser Einspruch wird die Verabschiedung des Entwurfes und seine Behandlung durch die volle Verfassungsversammlung jedenfalls hinausziehen. Der bereits einmal revidierte Fahrplan wird nochmals geändert werden müssen. Wahlen, von der Regierung «noch auf dieses Jahr» versprochen, können erst erfolgen, nachdem die Verfassung verabschiedet ist. Dies muss entweder durch zwei Drittel der Stimmen in der Verfassungsversammlung geschehen oder durch ein absolutes Mehr mit darauf folgender Volksabstimmung.
Islamisten unter Druck der Über-Islamisten
In der Verfassungsversammlung (die auch als provisorisches Parlament funktioniert) besitzt an-Nahda 87 von 217 Gesamtstimmen. Die Stimmung zwischen den gemässigten Islamisten der Nahda und den Säkularisten der Opposition ist dermassen gereizt und angespannt, dass man zähe Kämpfe, wenn nicht gar eine permanente Blockierung der tunesischen Politik befürchten muss.
Die gemässigten Islamisten stehen unter dem Druck der radikalen Salafisten. Wenn sie sich gegenüber den Säkularisten allzu nachgiebig zeigen, müssen sie befürchten, dass ein bedeutender Teil ihrer Wähler zu den Salafisten überläuft. Doch die Sprecher der säkularen Opposition verdächtigen Nahda, sie wolle sich an der Macht verschanzen und das «moderne und säkulare» Tunesien rücksichtslos unterdrücken.
Religionskritik und Freiheit
Es besteht ein Dauerstreit um die «Meinungsfreiheit», welche die säkulare Seite so versteht, dass es ihr auch erlaubt sein müsse, an dem in ihren Augen sehr engen Islamverständniss der Islamisten Kritik zu üben. Diesen jedoch erscheinen solche Äusserungen als «Kritik am Islam» und unter Umständen gar als «Beleidgung des Islams», was sie als einen strafbaren Tatbestand sehen.
Damit verbunden geht das Ringen um die Rechte der Frauen. Die Frauen auf der säkularistischen Seite des Ringens befürchten und sehen auch immer wieder deutliche Hinweise dafür, dass die Islamisten, sowohl die radikalen wie auch die gemässigten unter ihnen, sie der Rechte und der Stellung berauben wollten, die sie bisher in Tunesien genossen, dem in dieser Hinsicht modernsten aller arabischen Staaten.