Zehn Tage lang war ein fast siebzigjähriger Mann aus dem Norden Irans nicht nur bei den Iranern und Iranerinnen die Hauptfigur in den sozialen Medien; man solidarisierte sich mit ihm als Opfer der Unterdrückungsmaschinerie der iranischen Sittenwächter. Plötzlich wird das Ganze zu einer Affäre in der Affäre. So etwas kann es nur in der Islamischen Republik geben.
Tanzende israelische Soldatinnen während des Gaza-Krieges? Es ist zweifelsohne in jeder Hinsicht eine Grenzüberschreitung, die seit dem 12. Dezember in den sozialen Netzwerken zu sehen ist. Ob die 16 Sekunden lange Videoaufnahme echt ist und wenn ja, wie sie zustande kam, wissen wir nicht. Das ist aber auch nicht der eigentliche Skandal. Skandalös ist die Tatsache, dass diese Handvoll junger, schwerbewaffneter Israelinnen nach einer persischen Melodie tanzt.
Skandal auf dem Fischbasar
Damit sind wir beim eigentlichen Skandal, genauer gesagt auf dem Fischbasar von Rasht am Kaspischen Meer. Seit 10 Tagen beschäftigt ein bizarres Video das globale Dorf, über Kontinente hinweg und in zahlreichen Variationen, Macht- und Geheimdienstzentralen mischen offenbar genauso emsig mit wie KI- und Technikspezialisten.
Es zeigt den 68-jährigen Sadegh Booghi, wie er am 6. Dezember auf dem Fischbasar seiner Heimatstadt Rasht mit Freude so auffällig und provokativ singt und tanzt, dass sich schnell Händler, Kundinnen und Passantinnen um ihn scharen und ihn klatschend, singend und tanzend begleiten. Sadegh genoss in seiner Provinz als Fussballfan jahrzehntelang Prominenz. Mit seinem Blasinstrument war er bei jedem Spiel seiner Mannschaft dabei. Deshalb nennt man ihn Booghi: den Hornbläser. Der unverzeihliche Frevel seines Tanzes auf dem Fischbasar wurde über Sadeghs Instagram-Account in den sozialen Medien augenblicklich zu einem Hit.
Verhaftung des Hornbläsers
Bald tauchte die Meldung über Sadeghs Verhaftung und elf weitere sündige Männer auf. Wir sind vorläufig auf dem Höhepunkt der Affäre. Die Schliessung bzw. Plombierung der Geschäfte jener Händler, die mitgetanzt und mitgesungen hatten, sowie die Sperrung von Sadeghs Instagram-Account taten ihr Übriges und sorgten für bissige Kommentare. Die Lokalgrößen und Sicherheitsbehörden am Ort verteidigten ihr Vorgehen zur Wahrung der Moral umgehend und vehement. In Teheran meldete sich der Minister für islamische Führung zu Wort, ihm folgten der Tourismusminister, Abgeordnete, Offiziere der Revolutionsgarden sowie Freitagsprediger.
Dann wurde es drei Tage lang still um Sadegh. In dieser Zeit der Ungewissheit wuchs die Phantasie in den sozialen Medien grenzüberschreitend ins Unermessliche. Plötzlich sah und hörte man, wie tanzende Menschen in Afrika, Amerika und Australien ihre Solidarität mit Sadegh bekundeten, in dem sie ihn nachahmten. Vieles sah originell und echt aus, manches war schlechte Montage.
Sadeghs Geschichte und Karikaturen dazu erschienen auf den ersten Seiten der persischen Zeitungen; bekannte Kommentatoren und Chefredakteure nahmen sich das „Phänomen“ vor. „Eine Republik der Traurigen und Dauertrauenden“, titelte die Webseite Etemad, die den geduldeten Reformern nahesteht. Die Menschen lechzen nach Lächeln, auch wenn es künstlich ist, schloss der Kommentator seinen Leitartikel.
Bis sich dann der Hornbläser wieder selbst zu Wort meldete: mit Reue – ob erzwungen oder freiwillig, sei dahingestellt. „Ich bedauere meinen Ruhm“, sagt er in seinem letzten Videoauftritt.
Mit dieser öffentlichen Reuebekundung, die seit diesem Freitag Hunderttausende auf YouTube gesehen haben, schlägt Sadegh Booghi eine neue Seite seiner bizarren Affäre auf. Sie ist inzwischen zu einem grenzüberschreitenden Politikum geworden.
Aufwallung in der virtuellen Welt
Denn die Überraschung und Überrumpelung war umso größer, als an diesem Samstag bekannt wurde, Sadegh sei inzwischen zu einer Werbefigur mutiert und preise Produkte eines Handyanbieters an.
War die ganze weltweite Aufregung um Sadeghs Tanz nur eine gut gemanagte und gelungene Inszenierung und wenn Ja, warum?
Auffällig ist, dass genau in den Tagen der „Sadegh-Affäre“ im gesamten Land über eine ungeheuerliche Korruptionssumme von 3,3 Milliarden US-Dollar diskutiert und gestritten wurde. Denn diese Summe ist selbst für die Verhältnisse der von Korruption durchdrungenen „Republik“ beispiellos.
Warum man trotzdem davon erfährt, hat offenbar mit Bandenrivalitäten innerhalb des Machtapparates zu tun. In diesem rekordverdächtigen Fall geht es um den Import von Tee und Maschinen für die Teeindustrie. Eine Zeitung spricht sogar von über 3,37 Milliarden US-Dollar, die aus subventionierten Devisen abgeschöpft worden sein sollen. Diese Summe klingt und ist gigantisch, doch eine Hoffnung auf das Ende der Korruptionsspirale gibt es nicht.
Denn in dieser sanktionierten und auf Stellvertreterkriege spezialisierten „Republik“ bietet die Regierung subventionierte Fremdwährungen für den Import von Medikamenten und lebenswichtigen Gütern an. Dass nur gut vernetzte Personen Zugang zu diesen Ressourcen haben, gehört zur Normalität dieses Staates. In dem aktuellen Fall tauchen auf manchen Webseiten die Namen von Khameneis Schwiegersohn und mehreren hochrangigen Offizieren der Revolutionsgarden auf.
Dieser Fall verdeutlichte einmal mehr: Korruption ist systemimmanent, sie durchdringt die iranische Wirtschaft, die gesamte Gesellschaft inklusive der Moralprinzipien der Ayatollahs – zu Deutsch übrigens: die Zeichen Gottes.
90 Personen seien im Zusammenhang mit dieser Korruptionsaffäre verhaftet worden, sagte der iranische Präsident Raisi. Wer sie sind und was sie gemacht haben sollen, erfahren wir nicht. Solange es keine Gerichtsverhandlung gebe, dürfe über den Fall nicht berichtet werden, lautet die Anweisung der Revolutionsgarden. Ob es jemals und wenn ja, wann, einen Prozess geben wird, steht allerdings in den Sternen. Zahlreiche ähnliche Fälle aus der Vergangenheit lassen keine Hoffnung zu.
Verschwörung oder Wahrheit, wie auch immer: Man kann nur staunen, zu welchen Ablenkungsmanövern die Mächtigen dieses Gottesstaates fähig sind. Tatsächlich redet inzwischen niemand mehr über Sadegh und seine Tanz- bzw. Singfähigkeiten, über die exorbitante Korruption allerdings auch nicht mehr.♦
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Mit freundlicher Genehmigung von "Iran Journal"