„Der Starke ist am mächtigsten allein“, sagt Wilhelm Tell in Schillers gleichnamigem Drama. Der vorsichtige Stauffacher hält dagegen: „Verbunden sind auch die Schwachen mächtig.“ Die Geschichte zeigt kein eindeutiges Urteil, welcher Weg der bessere ist. Bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass es auf den richtigen Mix beider Leitsprüche ankommt.
Tell-Credo gegen „Brüsseler Diktat“
In Grossbritannien triumphieren jetzt mit knapper, aber klarer Mehrheit die Anhänger des Tell-Credos. Sie feiern ihren neuen „Unabhängigkeitstag“, die Freiheit vom angeblichen „Brüsseler Diktat“, wie die Brexit-Lautsprecher argumentierten. Eine erste Konsequenz dieses Verdikts ist schon geklärt: David Cameron, der britische Regierungschef, der dieses Referendum in die Wege geleitet hat – hauptsächlich um seine innerparteiliche Position zu festigen – wird zurücktreten. Sein Kalkül ist fehlgeschlagen.
Wahrscheinlich wird sein „Parteifreund“ Boris Johnson, der frühere Bürgermeister von London und die Speerspitze der Brexit-Kampagne, nun die Führung der Konservativen antreten und in die Regierungschef-Residenz an der Downing Street 10 einziehen. Johnson hat im Referendums-Kampf Gift und Galle gegen die EU gespuckt. Er ist bei seinen demagogischen Ausfällen auch nicht davor zurückgeschreckt, den Brüsseler Apparat mit „Hitler“ zu vergleichen.
Boris Johnsons „Morgenröte“-Verheissungen
Johnson - vor allem wenn er neuer Premier wird – und seine Brexit-Mitstreiter werden zumindest auf mittlere Sicht Beweise dafür erbringen müssen, dass Grossbritannien ohne EU-Mitgliedschaft tatsächlich besser fährt als im Brüsseler Verbund. Das dürfte schwierig werden, denn als Teil des EU-Clubs konnte sich das Vereinigte Königreich von seinem beängstigenden wirtschaftlichen Niedergang während der 1960er Jahre deutlich erholen und hat sich erheblich robuster entwickelt als der EU-Durchschnitt.
Der Cameron-Nachfolger Johnson wird im höchsteigenen Interesse gut daran tun, bei den bevorstehenden „Scheidungsverhandlungen“ gegenüber der EU nicht mit ähnlicher Häme und Arroganz aufzutreten, wie er es in seiner Brexit-Kampagne – und als ehemaliger Brüsseler Korrespondent des stockkonservativen „Daily Telegraph“ – getan hat. Ohne Kompromisse beim dringend benötigten Zugang der britischen Wirtschaft zum gemeinsamen Markt der EU werden die Brexit-Enthusiasten nicht weit kommen mit ihren Visionen einer neuen „Morgenröte“ für das Vereinigte Königreich. Kompromisse aber schmiedet man in der Regel nicht vom hohen Ross herab.
Bittere Niederlage für den Brüsseler Apparat
Das Brexit-Verdikt aber ist ohne Zweifel auch eine dröhnende Niederlage für das bisherige EU-Projekt. Selbst wenn das Ergebnis verhältnismässig knapp ausfiel, so gibt es nichts daran zu rütteln: Die Mehrheit der britischen Insulaner wollen keine „immer engere Union“ mit den übrigen 27 EU-Mitgliedern – jedenfalls nicht im politischen Sinne. Für die „Leave“-Befürworter ist diese Vision offenkundig mit zu viel Zentralismus, zu viel Bürokratie und Regulierungsfuror, einem zu schnellen Integrationstempo und zu wenig demokratischer Transparenz verbunden.
An dem Argument, dass Europa der Brüsseler Gemeinschaft eine 70-jährige Friedenszeit verdanke, ist zwar einiges dran, aber es wirkt allzu grobkörnig formuliert, um restlos einzuleuchten. Grossbritannien tritt ja mit dem Brexit nicht aus der Nato aus. Auch dieses militärische Bündnis hat während des Kalten Krieges wesentlich zur Friedenssicherung zumindest in Westeuropa beigetragen.
Fingerspitzengefühl dringend gefragt
Genau wie den Brexit-Gewinnern zu empfehlen ist, bei den schwierigen Scheidungsverhandlungen nicht in Hochmut zu verfallen, muss auch den EU-Oberen dringlich geraten werden, diese Prozedur nicht in der Pose der beleidigten Leberwurst zu führen. Bösartiger Streit oder kaltschnäuzige Verstocktheit bei diesen Verhandlungen würde den Interessen beider Seiten schaden. Dies wiederum könnte den EU-Gegnern in andern Mitgliedsländern, die mit nationalistischer Rhetorik ebenfalls mit Austritts-Ideen hantieren, zusätzlichen Auftrieb verschaffen.
Man kann, wie Beispiele aus der zivilen Praxis zeigen, Scheidungen ja auch als vernünftige und sogar gegenseitige verständnisvolle Prozesse zustande bringen. Das kann aber nur gelingen, wenn beide Seiten sich um ein Höchstmass an politischem Fingerspitzengefühl bemühen.
Erkenntnis aus der Schweizer Geschichte?
Was sind die Konsequenzen des Brexit für die Schweiz? Natürlich werden sich die EU-Gegner auch hierzulande die Hände reiben. Ziemlich sicher ist, dass die angestrebten Neuverhandlungen mit Brüssel im Zusammenhang mit der helvetischen „Masseneinwanderungs-Initiative“ wohl für einige Zeit blockiert sein werden. Im EU-Apparat wird man sich auf ganz andere Prioritäten als das Verhältnis zur Schweiz konzentrieren wollen. Ob der Ausstieg des Vereinigten Königreichs für unser Land eventuell ganz neue Kooperations-Perspektiven öffnet, etwa im Verhältnis zu London, kann im Moment niemand genauer beurteilen.
Doch man kann zur politischen Einordnung der britischen Brexit-Entscheidung vielleicht die eine oder andere Erkenntnis aus der helvetischen Geschichte ableiten. Schillers Wilhelm Tell hat zwar im Kampf für Freiheit und gegen die ausländische Obrigkeit nach dem Credo „Der Starke ist am mächtigsten allein“ gehandelt. Aber Stauffachers Ratschlag „Verbunden werden auch die Schwachen mächtig“ ist deshalb von den Eidgenossen keineswegs missachtet worden, wie man aus dem weiteren Verlauf der Historie weiss. Es hat nur einige hundert Jahre gedauert, bis sie nach vielen inneren und äusseren Kämpfen eine stabile und sorgfältig austarierte Form der Gemeinschaft fanden.
Gut möglich, dass man in ein paar Generationen Ähnliches einmal über den europäischen Einigungsprozess sagen wird – Brexit hin oder her.