Die Bewegung heisst „Tamarrod“. Ihr Protest richtet sich nicht nur gegen die Regierung, sondern auch gegen die gewählte Nationale Verfassungsversammlung. Sie wirkt auch als Parlament. Laut Tamarrod ist sie einseitig zusammengesetzt und braucht zu lange, um eine Verfassung zu verabschieden.
Die wichtigste säkularistische Oppositionsfront wittert Morgenluft. Sie setzt sich aus der rechtsliberalen Bewegung „Nida Tunes“ und der „Volksfront“ zusammen. In der Volksfront sind die extrem linken Parteien vertreten.
Die Front verlangt die Auflösung der gegenwärtigen Regierung. Zudem müsse die gewählte Nationale Verfassungsversammlung „korrigiert“ werden. Die Regierung und die Verfassungsversammlung stehen unter der Führung der gemässigten islamistischen an-Nahda Partei. Sie hatte bei den Wahlen die Mehrheit erreicht.
Hama Hammami, der Anführer der "Volksfront", regte an, die Oppositionsparteien sollten am 9. Juli zusammentreten, um die gegenwärtige "Krise" zu besprechen. Einer der Anführer seiner Front in Gafsa sprach von der Notwendigkeit, den Verfassungsentwurf "zu korrigieren" und eine neue Richtung einzuschlagen. Er fügte hinzu, "unsere Bewegung ist nicht direkt verbunden mit der ägyptischen. Doch der Sieg des ägyptischen Volkes ermutigt uns, unseren Kampf mit erhobenem Haupt fortzusetzen".
Es gibt eine offizielle und zahlreiche inoffizielle "Rebellionsbewegungen" (Tamarrod). Sie agieren alle auf Facebook. Manche der Aufforderungen zur Rebellion sind wild geworden. Oft enthalten sie verschleierte, aber auch sehr direkte Aufrufe zur Gewalt. Deshalb bringen sie die offizielle Bewegung, die auf Gewaltlosigkeit besteht, in Verlegenheit.
an-Nahda ignoriert alle Forderungen
Die wichtigste Regierungspartei, an-Nahda, hat alle Forderungen der Opposition abgelehnt. Sie erklärt, Tunesien befinde sich "auf dem richtigen Weg". Die Regierungsgegner würden nur versuchen, Chaos zu verbreiten. Jedermann wisse dies. Allerdings müssen auch ihre Sympathisanten der Regierung einräumen, dass die Formulierung der neuen Verfassung, die noch längst nicht ausgearbeitet ist, zu viel Zeit in Anspruch nimmt. Verantwortlich für diese Verzögerungen, so die Regierung, sei die „Behinderungstaktik“ der politischen Gegner. Via Facebook und Twitter wird zurzeit auch ein heftiger Streit über die „Ligen zur Verteidigung der Revolution“ ausgetragen. Diese Ligen stehen den Islamisten nahe. Wie weit sie zu "Nahda" gehören und wie weit zu den radikalen Salafisten-Gruppen, ist unklar.
“Wenn nötig Gewalt“
Die Gegner der Ligen werfen ihnen vor, gewaltsam gegen sie vorzugehen. Die rechtsliberale "Nida Tunes" fordert seit geraumer Zeit ihre Auflösung. Der Anführer der Ligen, Mounir Achour, hat die Absetzung des gewählten ägyptischen Präsidenten, Mohammed Mursi, scharf kritisiert. Er erklärte, die Demonstrationen der Muslimbrüder in Ägypten zeigten, dass das Volk zu Mursi stehe. Er forderte die "Auflösung aller Parteien in Tunesien, die zu Auflösung oder Umsturz der Regierung aufrufen". Die Regierung solle legale Massnahmen in diesem Sinne ergreifen. Er erklärte, seine Liga habe Anhänger in allen Provinzen des Landes, und sie seien bereit, wenn nötig zur Gewalt zu schreiten.
Die Ausstrahlung Ägyptens
Obwohl die Oppositionsbewegung in Tunesien ähnliche Züge aufweist wie jene in Ägypten, bedeutet dies nicht notwendigerweise, dass man in Tunesien den gleichen Erfolg erzielt wie am Nil. Die soziale Dynamik in Tunesien unterscheidet sich von jener in Ägypten. Zudem ist die Position der Armee innerhalb von Staat und Gesellschaft in Tunesien nicht die gleiche wie in Ägypten – jene der Polizei allerdings schon.
Und doch zeigt die Entwicklung in Tunesien, wie stark sich die ägyptischen Ereignisse auf alle arabischen Gesellschaften auswirken. Die gegenwärtige Entwicklung in Ägypten wirft erneut die Grundfrage auf: Ist der Islam mit Demokratie vereinbar? Diese Frage schien gelöst und bejaht worden sein, als in Tunesien und Ägypten Wahlen stattfanden und islamische demokratische Regime gewählt wurden. Die Türkei war als Vorbild zitiert worden.
Doch nun ist alles wieder in Frage gestellt. Auch das türkische Vorbild hat mit den Demonstrationen gegen Erdogan an Ausstrahlung sichtlich verloren. Die tunesische Nahda steht nun plötzlich alleine da. Ihre Feinde schöpfen Mut und vermuten: Auch sie wird nicht mehr lange an der Regierung bleiben.