„Machen wir uns nichts vor“, hat Dana Milbank in der „Washington Post“ bemerkt: „Seit 1976 hat es keinen interessanten nationalen Parteitag mehr gegeben.“ Seinerzeit kam es in Kansas City (Missouri) beinahe zu einem offenen Machtkampf, weil es Gerald Ford im Vorwahlkampf nicht gelungen war, genügend Delegiertenstimmen zu sammeln, um als republikanischer Präsidentschaftskandidat bestätigt zu werden. Am Ende jedoch gelang es dem Präsidenten, Herausforderer Ronald Reagan im ersten Wahlgang zu besiegen und das öffentliche Schauspiel einer gespalteten Partei zu vermeiden. Hätte keiner der Kandidaten im ersten Wahlgang die Mehrheit errungen, wäre es zu einem unansehnlichen Feilschen unter den Delegierten gekommen.
Amerikas Parteikongresse sind heute als Anlässe eher uninteressant, da sie zu pompösen Selbstbestätigungsritualen verkommen sind. Über drei oder vier Tage hinweg akribisch choreographiert und mit viel patriotischem Brimborium unterlegt, dienen die Treffen der Demokraten und der Republikaner in erster Linie dazu, vor laufenden Fernsehkameras das Image der Partei zu schönen. Obwohl sich dieses Jahr das Interesse zumindest der grossen drei Fernsehgesellschaften in Grenzen hält: Über ihre Quoten und Werbeeinnahmen besorgt, zeigen sie statt des politischen Theaters abends lieber populäre Serien wie „Hawaii Five-O“. Insgesamt wollen ABC, CBS und NBC im Hauptprogramm jeweils lediglich während einer Stunde direkt aus Tampa senden – zum Ärger der Republikaner, die zum Auftakt gern Mitt Romneys Gattin Ann hätten auftreten lassen wollen.
Keine Steinchen des Anstosses
Über einzelne Themen von nationalem Interesses wie etwa Einwanderung oder Klimawandel diskutieren die Delegierten nicht mehr. Denn die Parteispitze hat die jeweilige Plattform bereits zum Voraus bis ins letzte Detail ausgearbeitet und von allen möglichen Steinchen des Anstosses gesäubert. Obwohl das Thema Abtreibung zum Beispiel unter Republikaner höchst umstritten bleibt: Die einen wollen sie unter keinen Umständen zulassen, während andere sie im Fall von Vergewaltigungen befürworten.
Am fixen Ablauf der Parteitage ändert auch nichts, dass sowohl in Tampa wie in Charlotte rund 15 000 Journalisten akkreditiert sind. Es ist ein medialer Overkill erster Güte, denn die Ausbeute realer Nachrichten dürfte sich zum Umfang des Medientrosses umgekehrt proportional verhalten. Dennoch können sich die Vertreter der oft gescholtenen „mainstream media“ (MSM) mit der Erkenntnis trösten, dass sie sich in Sachen Glaubwürdigkeit noch immer mehr Respekt vonseiten der Parteien erfreuen als inzwischen omnipräsente Aggregatoren, Blogger oder Tweeter. Wenn es nämlich darum geht, eine Attacke auf den politischen Gegner mit Zitaten zu untermauern, bedienen sich Demokraten wie Republikaner mit Vorliebe Quellen wie der „New York Times“, des „USA Today“ oder der Associated Press (AP).
Parteitage bringen keinen spürbaren Popularitätsgewinn
Immerhin dürften für die Journalisten einige Brosamen übrig bleiben, mit denen sich unerschrocken spekulieren lässt: Welcher Kandidat hat die wirkungsvolleren Hauptredner engagieren können? Mitt Romney mit Chris Christie, dem im doppelten Sinn des Wortes gewichtigen Gouverneur aus New Jersey, oder Barack Obama mit Bill Clinton, dem Ex-Präsidenten und glänzendem Rhetoriker? In Tampa nicht dabei ist George W. Bush, eine Absenz, die in seiner Partei für Erleichterung sorgt. Sonst hätte sich die Frage gestellt, wie die Republikaner einen ungeliebten früheren „Commander-in-chief“ am besten verstecken sollen. Wichtig aber bleibt auf jeden Fall, dass der Parteitag mit „Stars and Stripes“, Tonnen von Konfetti und einer Wolke bunter Ballone endet.
Derweil widerspricht in der „Washington Post“ ein Politologe Dana Milbanks Einschätzung, amerikanische Parteikongresse seien uninteressant geworden. Zwar stimmt Martin Cohen von der James Madison University in Harrisonburg (Virginia) der allgemeinen Einschätzung zu, wonach aus solchen Treffen wenig Substanz entspringt. Er sieht die Kongresse aber als Chance, sich als Partei vom politischen Gegner abzuheben und zu profilieren. Auch räumt Cohen ein, dass der Parteitag einem Kandidaten selten einen spürbaren Popularitätsgewinn beschert. Er erinnert aber an Bill Clinton, dessen Beliebtheit 1992 nach dem Treffen der Demokraten um 16 Prozentpunkte emporschnellte. Der Politologe bestreitet ferner die Einschätzung, Parteikongresse würden keine Überraschungen mehr bieten, nachdem die Präsidentschaftskandidaten, anders als früher, heute schon zum Voraus feststehen. Der Politologe verweist auf Barack Obama, dem 2004 als praktisch Unbekanntem beim demokratischen Parteitag in Boston (Massachusetts) mit einer packenden Rede der politische Durchbruch gelang.
"Legitime Vergewaltigungen"
Noch entzieht sich in Amerika das Wetter privatwirtschaftlichem Diktat und kann der tropische Sturm „Isaac“, der von der Karibik her auf Florida zusteuert, zum Hurrikan mutieren und Tampa treffen. Es wäre für die Republikaner zur Abwechslung ein unwillkommener Fall höherer Gewalt. Dagegen sind die jüngsten Probleme der Partei hausgemacht. Da sind zum Beispiel jene 30 Abgeordneten der „Grand Old Party“ (GOP), die im Sommer auf einer Reise nach Israel betrunken im See Genezareth baden gingen, einer unter ihnen im Adamskostüm – nicht eben imagefördernd für eine Partei, die Gott und die Frommen im Lande als Alliierte betrachtet.
Und da ist, noch peinlicher, der Fall jenes republikanische Senatskandidaten aus Missouri, der in einem TV-Interview allen Ernstes behauptet hat, Schwangerschaften kämen nach „legitimen Vergewaltigungen“ nur selten vor, weil der weibliche Körper in solchen Fällen Mittel und Wege finde, „die ganze Sache herunterzufahren“. Noch weigert sich Todd Akin, dem parteiinternen Druck nachzugeben und seine Kandidatur zu beenden. Und wieso sollte er auch, wenn mutmasslich eine Mehrheit seiner ländlichen Wähler denkt wie er? Die Republikaner dagegen hatten gehofft, mit dem Gewinn eines Sitzes in Missouri der Mehrheit im US-Senat näherzukommen.
Offenes Rennen
Währenddessen zeigen nationale Umfragen, dass das Rennen um den Einzug ins Weisse Haus rund zehn Wochen vor der Wahl am 6. November nach wie vor offen ist. Laut einer Befragung von AP-GfK führt Barack Obama mit 47 zu 46 Prozent hauchdünn vor Mitt Romney, wobei dessen Wahl Paul Ryans als Vize die Meinungen kaum beeinflusst hat. Eine Umfrage von NBC News/Wall Street Journal sieht den Präsidenten mit vier Prozentpunkten vorn. Gleichzeitig zeigen Erhebungen in „Wackelstaaten“ wie Florida, Ohio oder Wisconsin, dass es Romney gelungen ist, gegenüber Obama aufzuholen. Dieselben Umfragen zeigen aber auch, dass eine Mehrheit der Wähler eine Reform von „Medicare“ ablehnt, wie Romney/Ryan sie vorschlagen. Im Übrigen punktet Barack Obama in erster Linie bei Afroamerikanern, Latinos, unter 35-Jährigen sowie Frauen. Mitt Romney indes ist unter Weissen, Leuten vom Lande und Senioren beliebter. Ganz klar schlägt der Präsident den Herausforderer in den Kategorien Sympathie und Mitmenschlichkeit.
Ebenso deutlich jedoch lässt Mitt Romney Barack Obama beim Sammeln von Spenden hinter sich. Die Demokraten haben im Juli insgesamt 75 Millionen Dollar Einnahmen verbuchen können, die Republikaner über 100 Millionen. Nach Ausgaben von 91 Millionen Dollar im letzten Monat liegen 124 Millionen Dollar in der Kriegskasse des Präsidenten, wogegen Romney, der im gleichen Zeitraum lediglich 75 Millionen ausgegeben hat, sich auf 186 Millionen Reserven stützen kann. Anders als vor vier Jahren, als Barack Obama nach dem Parteitag mit deutlich mehr Mitteln in die letzte Phase des Wahlkampfs gegen John McCain stieg, werden dieses Mal der Republikaner mehr ausgeben können – in erster Linie für negative Werbespots am Fernsehen. Schätzungen zufolge werden beide Parteien bis zur Entscheidung Anfang November gegen zwei Milliarden Dollar für Fernsehwerbung ausgegeben haben.
"La Clinton"?
Geldknappheit ist auch der Grund, weshalb die Demokraten ihren Kongress, der am 3. September in Charlotte beginnt, von vier auf drei Tage verkürzt haben. Die Partei hat dieses Jahr ausdrücklich keine Spenden von Firmen entgegengenommen, während Unternehmen vor vier Jahren in Denver (Colorado) noch mehr als die Hälfte aller Parteitagskosten berappten. Jedenfalls war es den Organisatoren Anfang Sommer erst gelungen, knapp zehn Millionen des auf 37 Millionen Dollar veranschlagten Budgets aufzutreiben. Was aber verschiedene Gruppierungen, allen voran die Gewerkschaften, nicht daran hindern wird, in Charlotte lautstark zu demonstrieren. Die Arbeitervertreter protestieren dagegen, dass die Demokraten es wagen, ihren Parteitag in einem Staat abzuhalten, der als gewerkschaftsfeindlich bekannt ist.
So heftig wie 1968 in Chicago, als sich während des Parteitages Demonstranten und Polizisten blutige Strassenschlachten lieferten, werden die Proteste in Charlotte kaum ausfallen. Schon aufregender wäre, falls Barack Obama, wie ein Gerücht wahrhaben will, seinen mitunter etwas plappermäuligen Vize Joe Biden durch Aussenministerin Hillary Clinton ersetzen würde. „La Clinton“ wäre dann 2016 in einer idealen Lage, selbst für das höchste Amt im Staate zu kandidieren. Doch laut Auskunft des US-Aussenministeriums wird Hillary Clinton nächste Woche nicht in Charlotte sein. Der Grund? „Wichtige Amtsgeschäfte“.
Gemäss einem Wahlhelfer Barack Obamas wird es für die Demokraten in Charlotte vor allem darum gehen, die Präsidentenwahl als Wegscheide für die Nation zu definieren, als Wahl „zwischen einer Wirtschaft, die solid für die amerikanische Mittelklasse einsteht, und einer Rückkehr zu den für das Budget verhängnisvollen Steuersenkungen für Reiche, zur Auslagerung (von Arbeitsplätzen) und zu riskanten Finanzgeschäften“. Jeder Redner in Charlotte sei danach ausgewählt worden, wie gut er persönlich diesen Entscheid definieren könne. Barack Obama wird seine Rede am Abend des 5. September im „Bank of America Stadium“ halten. Das Stadion beherbergt die Football-Spieler der „Carolina Panthers“ und fasst 75'000 Zuschauer. Wie in Tampa könnte auch hier das Wetter als Spielverderber auftreten: Die Sportstätte ist nicht überdacht, und in Charlotte sind Gewitter zu dieser Jahreszeit relativ häufig. Kein Problem, solange sie reinigen.
Quellen: „The New York Times“, „The Washington Post“, „The Los Angeles Times“, „The Atlantic“, „The Daily Beast“, „NBC News“