Trotz militärischer Teilerfolge gegen den "Islamischen Staat" wird immer häufiger die Frage gestellt: Sind militärische Mittel überhaupt dazu geeignet, die Bedrohung, die von dieser und verwandten extremistischen islamistischen Bewegungen ausgeht, endgültig zu beenden?
Expansion der Nationalsozialisten
Es geht dabei letzten Endes um die Frage, ob man Ideen mit Waffengewalt aus der Welt schaffen kann – sogar wenn das schlechte Ideen sind. Eine realistische Antwort muss lauten: Ja – jedoch müssen die Einsätze ausserordentlich hoch sein.
Die Nazis liefern das Beispiel, das uns am geläufigsten ist. Ihre Expansion war ebenso von einer Ideologie motiviert wie im Falle des IS. Sie wurden erst in dem Moment gestoppt, als sich eine gewaltige Gegenmacht in einer weltweiten Koalition gegen sie zusammenschloss. Die Gegenmacht umfasste Grossbritannien und das Commonwealth, Russland und die USA. Europäische Widerstandsbewegungen gehörten ebenfalls dazu. Ihnen gelang es schliesslich, die materielle Macht zu brechen, die die Nationalsozialisten im Zeichen ihrer Ideologie gewonnen hatten. Als "Festung Europa" bezeichneten die Nationalsozialisten ihren Machtbereich, als sie bereits in die Defensive geraten waren.
Reguläre und irreguläre Heere
Aber ideologisch basierte Bewegungen sind zäh. Wenn man ihnen mit Gewalt beikommen will, braucht es langen Atem. Der Kampf dauert so lange, bis allen von der Ideologie erfassten Kämpfern drastisch aufgezeigt werden kann, dass ihre Ideologie nicht funktioniert, weil sie zum Zusammenbruch, nicht zur Machtsteigerung, führt. Der Zusammenbruch muss "total" ausfallen, wie man es damals auf der Gegenseite der Nazis festlegte und dann auch herbeiführen konnte.
Der Vergleich mit dem Nazionlasozialismus hinkt jedoch in mancherlei Hinsicht. Ein wichtiger Unterschied dürfte sein, dass die damalige ideologische Macht durch ein reguläres Heer abgestützt war, Diesem Heer liessen sich unübersehbare und nicht zu bestreitende Niederlagen auf dem Schlachtfeld beibringen.
Die ideologische Macht des IS stützt sich dagegen auf irreguläre Kriegsführung. Sie wird von Einzelpersonen und kleinen Gruppen getragen, die ihren eigenen Tod als Sieg deuten und ihn sogar feiern. Damit ist diese Ideologie unwiderlegbar. Für den überzeugten Träger der Ideologie und für seine Gesinnungsgenossen bleibt sie gültig, auch wenn ihre eigene Person ("in dieser Welt") an ihr zugrunde geht. Ja, ihr Tod dient den überlebenden Glaubensgefährten als ein "Beweis" für die Kraft ihrer ideologischen Vorstellungen. Diese Gegebenheit kann, wie es gegenwärtig in Palästina geschieht, zu Messerüberfällen führen, die mit Sicherheit den Tod des Überfallenden nach sich ziehen, ohne dass dessen Ideologie, welche die Untat bewirkt und begründet, dadurch zusammenbricht.Im Gegensatz dazu sind für ein reguläres Heer Niederlagen immer auch ein Hinweis auf die Überlegenheit des Gegners.
Die Kraft gewaltlosen Widerstands
Die Fragmentierung der Auseinandersetzung in Klein- und Einzelkämpfe und beinahe individuelle Machtproben bewirkt zudem, dass der "totale" Sieg erst durch die Beendung aller einzelnen kleinformatigen Auseinandersetzungen unbestreitbar erfahren und nachweisbar wird. Das Ende der Ideologie selbst, nicht nur das von Einzelnen ihrer Träger, wird erst offenbar und muss erst zugestanden werden, wenn es dazu kommt, dass die Masse der Träger dieser Ideologie soweit reduziert wird, dass die Ideologie selbst ihre Überzeugungskraft einbüsst, weil "niemand mehr" an sie glaubt.
Im Extremfall kommt die Ideologie völlig ohne Gewaltanwendung aus. Es genügt, wenn sie Gewalt erleidet. Daher kommt es zur Kraft des gewaltlosen Widerstandes, wie Gandhi ihn vorlebte. Die Ideologie bleibt erhalten und wirksam, auch wenn ihre Gläubigen darauf verzichten, sie kämpferisch zu verteidigen und durch Gewaltmassnahmen zu fördern. Ihre Selbstopferung durch die Hand ihrer Feinde bleibt wirksam, solange die Ideologie sich in der von ihr beherrschten Gruppe oder Gesellschaft lebendig erhält und weiter ausdehnt.
Auf derartigen Grundlagen hat sich das Christentum mit seinen Märtyrern und opferbereiten Wohltätern im Römischen Reich – im Verlauf von drei Jahrhunderten – durchgesetzt.
Der Verzicht auf Gewalt ist allerdings keineswegs Sache des IS, weil seine Ideologie selbst auf dem Begriff des "Heiligen Krieges", mithin auf Gewaltanwendung, aufbaut.
Ideologie im Wandel
Ideologien sind wandelbar. Sie entstehen und passen sich an auf Grund von gesellschaftlichen Gegebenheiten, und sie konditionieren ihrerseits diese Gegebenheiten, wodurch sie die Gesellschaften verändern können.
Andere Ideologien, die sich als glaubwürdiger erweisen als die zuvor bestehende, können ihre Vorläufer überstrahlen und ausschalten. Dadurch verliert eine Ideologie ihre Wirksamkeit viel mehr als durch jeden Versuch, sie niederzukämpfen. Denn solange sie als Ideologie wirksam bleibt, wird der bewaffnete Kampf gegen sie die Entschlossenheit ihrer Anhänger erhöhen und oftmals auch ihre Ausdehnung fördern.
Genozid mit gutem Gewissen
Man kann formulieren: Wer eine Ideologie mit Gewalt bekämpfen will, ist darauf angewiesen, "genozidal" vorzugehen. All ihre Träger müssen vernichtet werden. Die Mongolen erreichten dies nicht gegenüber den islamischen Gesellschaften, obwohl sie sich diese überaus blutig und zerstörerisch unterwarfen. Ihre Schädelpyramiden reichten nicht aus. Zu guter Letzt nahmen sie selbst den Islam an.
Die spanischen und die amerikanischen Kolonialisten in Süd- und Nordamerika führten Genozide gegenüber den dortigen Bevölkerungen durch. Sie taten dies mit gutem Gewissen. Bartolome de las Casas, der sich dagegen auflehnte, war eine Ausnahmeerscheinung. Jene Bevölkerungen befanden sich in den Augen der Kolonisatoren so weit entfernt von dem, was diese als menschenwürdig ansahen, dass diese "Heiden" der grossen Mehrheit der "christlichen" Eindringlinge nicht wirklich als Mitmenschen galten.
Doch selbst unter solchen genozidalen Verhältnissen kam es zu einer „Bekehrung“ zum Christentum. Sie nahmen die Ideologie der Eroberer an.
Gewalt der Religionen
Die Religionsgeschichte ist voll von ideologischen Kämpfen, die gewaltsam ausgetragen wurden. Beispiele aus der christlichen Kirchengeschichte: die blutige Unterwerfung und anschliessende Bekehrung der Sachsen durch Karl den Grossen; die Unterwerfung der Katharer; die der Hussiten.
Man findet auch erfolgreiche neue Ideologien und Ideologievarianten, Beispiel: protestantische Varianten des Christentums. Wobei es sich um einen Teilerfolg handelte, der nach bitteren Kriegen zur Aufteilung in unterschiedliche Bevölkerungsgruppen und Herrschaftsgebiete führte. Die Ausbreitung und – in der französischen Revolution – versuchte gewaltsame Durchsetzung der Aufklärungsideologie war besten Falles ein Teilerfolg. Die christliche Ideologie konnte nicht ausgetilgt werden. Sie kehrte zurück, jedoch nie mehr mit der gleichen Selbstverständlichkeit, die ihr vorher eigen war.
Das führte zu einer Aufspaltung nicht in Territorien, sondern in unterschiedliche Gruppen und Personen. Diese kleingliedrige Mischung, innerhalb von einzelnen Staaten, führte über blutige Jahrzehnte und Jahrhunderte hin zum Gewaltverzicht und auch zu vielen Übergangslösungen von teilweiser Annahme und teilweiser Ablehnung der unterschiedlichen christlichen Sichtweisen.
Ideologien ferner Erreichbarkeit
Die Ideologie des IS gehört zu einer bestimmten Gruppe von Ideologien, die man als „Rückgriff auf das Goldene Zeitalter“ bezeichnen kann. Eine idealisierte Vergangenheit soll "wieder" Wirklichkeit werden. Die Zugkraft dieser Art von Ideologie beruht auf dem Umstand, dass die bestehende Gegenwart als "unannehmbar" empfunden wird. Je weniger akzeptabel die Gegenwart ist, desto leuchtender erscheint das Goldene Zeitlater, das es wieder zu verwirklichen gilt. Für den IS ist dieses "das Kalifat". Dieses Ziel gilt als dermassen erstrebenswert, dass es auch die Aufopferung und Selbstaufopferung aller Kämpfer rechtfertigt und verklärt.
Jenseitige Verwirklichung
Wenn sich erweist, dass das Goldene Zeitalter durch Kampf in dieser Welt nicht zu erreichen ist, kann die Ideologie doch wirksam bleiben, indem sie ihre Erwartungen in eine entfernte und zeitlich unbestimmte Zukunft verlegt, wie die Erscheinung des Messias oder des 12. Imams der Schiiten, oder Auferstehung und Jüngstes Gericht mit nachfolgender Verdammnis oder Seligkeit für die Christen.
Im Falle der nichtreligiösen Ideologie des Marxismus wurde dieses in die unbestimmte Zukunft verrückte Endziel der künftige Staat der Arbeiterklasse. In jenem der Freimarktideologen: der sich selbst regelnde Markt, der allen, die ihn verdienen, wirtschaftlichen Wohlstand bringen soll.
In solchen Fällen kann der allen Ideologien einwohnende Anspruch auf die alleinige, die "allein selig machende" Wahrheit gemildert werden, weil der Wahrheitsnachweis ja in weite Ferne gerückt ist. Das Gleiche gilt dann auch von der abnehmenden Notwendigkeit, die eigene Ideologie mit Gewalt zur allein gültigen zu erzwingen. Man "glaubt" noch an sie, sieht sich jedoch nicht als verpflichtet an, ihre Durchsetzung hier und jetzt mit Gewalt zu erreichen.
Es folgen noch ein zweiter und dritter Teil dieser Überlegungen