Ali Khamenei steht vor dem Scherbenhaufen seiner «Strategischen Tiefe». In den drei Dekaden seiner Herrschaft stellte er fast das gesamt Potential seines grossen und reichen Landes den diversen Milizen für den Kampf gegen Israel zur Verfügung. Die Hamas-Attacke ist auch seine Zeitenwende. Wohin seine Reise geht, weiss er wahrscheinlich selbst nicht.
Wo endet der Schein und wann beginnt das Sein? Was ist Politik und was Propaganda? Diese uralte Frage der «Diktaturkunde» zwang einst manche Journalisten dazu, den Begriff «Kremlastrologie» zu kreieren.
Israel-Hass ist der Kern des politischen Islam
Das Lesen der Zwischenzeilen dessen, was aus Moskau kam, wurde oft zu einer profitablen Profession, das Deuten der Propaganda zu einer regelrechten Lehre. Doch eine «Mullah -Astrologie» kann es, wird es nie geben, weil Predigen und Propaganda die einzige Beschäftigung eines Mullahs und Israel sein Hauptthema ist. Was sie sagen, ist ihre Politik, hier braucht man keinen Deuter.
Der politische Islam, den wir im 20. Jahrhundert kennengelernt haben, war von Beginn an mit dem Kampf gegen Zionismus verbunden und verwoben. Über alle Fraktionen hinweg, Bei Sunniten ebenso, wie bei Schiiten. Im Iran ist es nicht allein Ali Khamenei samt seinem radikalen Hofstaat, der den heiligen Kampf gegen «Zionismus» mit aller Macht vorantreibt. Der Krieg um Gaza offenbart erneut und eindeutig, wie nah sich Reformer und Radikale sind.
Für die offizielle Propaganda existiert das Wort Israel nicht, aus ihrem offiziellen Vokabular ist es längst getilgt. Seit über vierzig Jahren ist ausschließlich vom رژیم اشغالگر صهیونیستی, dem zionistischen Besatzungsregime die Rede. Doch auch die machtlose, nur geduldete Opposition im Land spricht dieselbe Sprache. Mehr noch. Selbst jene «Islam- Neudenker», die ihr Leben ins Exil retten mussten, erzählen die gleiche Erzählung. So wie Abdolkarim Soroush, der Grossmeister der «Neudenker» der iranischen Schiiten.
Im Schiismus taucht noch ein zusätzliches Problem auf: تقیه die «Verstellungspflicht», die Verdeckung der Wahrheit, wenn es dem Islam nutzt. Womit wir wieder da sind, wo wir immer waren. Was ist echt, was ist vorgespielt?
7. Oktober 2023 – ein Tag der Ernte
Vier Dekaden hatte man mit aller Kraft gesät. Und an diesem Tag wurde ohrenbetäubend der Beginn der «Erntezeit», der Anbruch einer neuen Welt ohne Zionisten, verkündet. Am Abend verteilte man auf dem Teheraner Palästinaplatz Süssigkeiten aller Art, gesüssten Tee und Rosenwasser inklusive. Hier residierte einst die israelische Mission. «Verbindungsbüro» nannte sich diese diplomatische Vertretung. Das ist aber eine längst vergangene, vergessene Zeit. An diesem Platz befindet sich heute die Botschaft Palästinas.
Hier läuft auch eine makabre Restzeituhr. Die digitalen Ziffern zeigen sekundengenau das Ende des «zionistischen Gebilde». Bei der Installation vor vier Jahren stellte man die Uhr auf 8411 Tage. Solange hatte Israel damals noch zum Überleben. Das hatte Ali Khamenei prophezeit. Seitdem läuft die Uhr des Orakels. Für diese gespenstige, ja grauenhafte Wahnvorstellung wird tagaus, tagein so intensiv geworben und gearbeitet, als sei es eine göttliche Prophetie, eine endgültige Wahrheit. An diesem Abend schien es so, als müsste man diese bizarre verschrobene Uhr wieder neu justieren: Das Ende Israels rückte vermeintlich näher, als die Restuhrzeit verheisst.
War die propagierte Zeitenwende an diesem 7. Oktober nur Agitation und Hetze, oder hatten wir es mit Programmatischem, Politischem ja Rationalem zu tun? Peyman Jebelli, der Leiter des staatlichen Radios und Fernsehens sagte vor den Mikrophonen, seine Organisation bereite sich darauf vor, bald das Ende des «Zionistischen Regimes» zu verkünden. Jebellis Apparat hat fast 50’000 Mitarbeiter, dutzende Radio- und TV- Programme sowie Hunderte Internetportale. Niemand, Ali Khamenei ausgenommen, darf seine Anstalt kontrollieren.
Der 7. Oktober – die Rache eines Unterschätzten?
Khameneis treuste Anhänger unter den Mullahs in Qom, dem Zentrum der schiitischen Gelehrsamkeit, begannen sich an diesem Abend als Freiwillige für den Kampf in Palästina zu registrieren. «Fars», die Webseite der Revolutionsgarden, berichtete über freiwillige Verbände, die sich über Irak und Syrien gen Palästina aufgemacht hätten. Der Kampf der «Achse des Widerstandes», die sich von Jemen, Irak, Syrien und Libanon bis nach Palästina erstreckt, meldet an diesem Abend Sturmbereitschaft. Hossein Amir Abollahian, der iranische Aussenminister drückte es plastisch aus: «Die Finger der Widerstandachse ist auf dem Abzug.»
Wer organisiert, trainiert, finanziert diese Achse, die sich über fünf Länder ausgedehnt hat? Wer entwirft in Khameneis «Hofstaat» Strategien, wer denkt sich konkrete Pläne für die «Achse» aus und wer ist für anschliessende Propaganda und Publikationen zuständig?
Eine Woche nach der Hamas-Attacke auf Israel meldete die «New York Times»: Esmail Ghaani, Chef der Quds-Brigaden der iranischen Revolutionsgarde hätte ein Jahr lang an einem gemeinsamen Koordinationsschema für alle Milizen der «Achse» gearbeitet, dafür mehrere Treffen in Beirut mit Hizbullah-Chef Hassan Nassrallah und den anderen Milizenchefs aus der Region abgehalten.
Ghaani übernahm nach Qassem Soleimani das Kommando der Quds-Brigaden. Zu grosse Fussstapfen, die Ghaani nie füllen würde, war die einhellige Meinung aller Beobachter. Soleimani hatte sich zum Nationalhelden über alle Fraktionen hinweg feiern lassen. Nach seiner Ermordung auf Befehl des US-Präsidenten Trump vor fast zwei Jahren nahmen Millionen im ganzen Land an seiner Beerdigungsfeier teil. Ein unersetzbarer Kriegsfürst sei er gewesen, mit dem niemand sich messen könne und dürfe, so der Tenor der Propaganda nach seinem gewaltsamen Tod.
Wenige Stunden nach Soleimanis Tod ernannte Ali Khamenei Ghaani zum neuen Kommandanten der Quds-Brigaden. Doch die Schatten Soleimanis waren nach seiner Ermordung noch länger und umfassender. Ein Unbekannter, Unterschätzter und sogar Belächelter wurde sein Nachfolger. Über Gahaanis Rolle bei dem Hamas-Angriff will die «New York Times» mit fünf Iranern gesprochen haben, die sich in seinem Umkreis befunden haben.
Der Hizbullah-Chef, Hassen Nassrallah, soll im März ein stundenlanges Online-Treffen mit einer Elitegruppe von Strategen aller vom Iran unterstützten Milizen abgehalten und sie aufgefordert haben, sich auf einen Krieg mit Israel von grossem Ausmass, einschliesslich einer Bodeninvasion, vorzubereiten. Ghaani, der Hauptmanager des Angriffs, habe von einer neuen Ära im Nahen Osten gesprochen, erzählen zwei andere Teilnehmer aus Iran und Syrien der «New York Times».
Was auch immer man glauben mag, wovor man sich fürchten muss, das werden wir nach den Turbulenzen der «Zeitenwende» erfahren. Es kommt auch auf Khameneis «Hofstaat» an. An diesem «Hof» dominieren die Quds-Kommandeure. Auch in Raissis Kabinett sitzen Offiziere dieser Quds. Der mächtige Innenminister Ahmad Vahidi, der wegen Terrorattentate auf der Interpolliste steht, war Gründer und selbst zehn Jahre lang der erste Kommandant der Quds.
Plötzlich werden aus den Tätern Opfer
Die Teheraner Siegesfeier währte nicht lang. Genauer gesagt drei Tage, bis Israel realisiert hatte, was eigentlich geschehen war, bis Netanjahu einsah, dass er eine erweiterte Koalition brauchte. Hamas’ «Sieg» wurde mit Beginn der massiven Gaza-Bombardierung zum Pyrrhussieg. Auch in Teheran schlug man das nächste Blatt auf, das der Opferdarstellung. Wie eine Inszenierung, vorgesehen und vorgeschrieben. Der riesige Propagandaapparat schaltete um. Al-Jazeera aus Doha lieferte ausreichend Bilder des Elends.
Nicht die glorreichen Gotteskämpfer, sondern die zerstückelten Leichen der Babys auf den Armen ihrer weinenden und schreienden Väter standen im Mittelpunkt. In einer Dauerschleife sieht, hört man all das seitdem unentwegt in allen TV-Programmen, den millionenfachen Webportalen und von unzähligen Kanzelpredigen.
Mässigung à la Khamenei
Parallel dazu ein zaghafter Rückzug. Irans Uno-Mission milderte plötzlich seinen aggressiven Ton und versicherte der Welt, Iran würde nie eingreifen, es sei denn, Israel greife iranische Interessen oder Bürger an. Was das Interesse ist, das vor dem Bürger kommen muss, davon hört man dieser Tage aus der libanesisch-israelischen Grenze. Die Hizbullah ist das geliebte, gelobte und hochgerüstete Kind der islamischen Republik. Die Nachrichtenagentur Reuters zitierte an diesem Montag einen Informanten aus der Umgebung von Ghaani, Iran befinde sich nun in einer Zwickmühle.
Koffer voller Dollar für Hamas
Die Machtbasis, die mit der Hamas und dem Islamischen Dschihad über drei Jahrzehnte hinweg in Gaza aufgebaut wurde, die «Strategische Tiefe», wie Ali Khamenei es nennt, droht zu verschwinden. Hamas soll jährlich 100 Millionen Dollar Hilfe aus dem Iran bekommen haben, so das Washingtoner State Department.
Die Geschichte, die Mahmud Zahar – einst Hamas-Aussenminister – vor zwei Jahren dem arabischen Fernsehsender Al-Alam erzählte, geht in den sozialen Netzwerken immer noch viral. Sie ist eine Erzählung über grenzenlose Rückendeckung. Zahar erzählt von einer seiner Reisen in den Iran im Jahre 2006 und über das Ausmass der iranischen Hilfsbereitschaft für Hamas: «Als ich in Teheran Qassem Soleimani traf, erzählte ich ihm über unsere Schwierigkeiten, die Gehälter unserer Kader zu bezahlen, unsere sozialen Dienste aufrechtzuerhalten und über unseren Rüstungsbedarf. Bruder Qassem wies sofort an, meine Wünsche zu erfüllen. Am nächsten Tag, vor der Abreise unserer Delegation, sah ich auf dem Flughafen, dass alle unsere Koffer mit Dollar gefüllt waren. Es waren 22 Millionen Dollar; hätten wir mehr Koffer mitgehabt, könnten wir mit Sicherheit mehr mitnehmen, in einem Koffer kann man ja nicht mehr als vierzig Kilogramm hineinpacken.» Al-Alam ist der arabischsprachige Propagandakanal der Islamischen Republik. Davon gibt es Dutzende.
Das Ende der Euphorie naht
Am Montag meldete Reuters, israelische und westliche Sicherheitsquellen hätten gewarnt, die Situation sei instabil, ein Angriff der Hizbullah oder anderer Milizen aus Syrien oder Irak führe zu einer völlig neuen Situation. Eine der israelischen Quellen habe hinzufügt, so Reuters, eine Fehleinschätzung des Iran oder einer seiner verbündeten Gruppen werde die Vorgehensweise Israels und der Welt ändern.
Auf dem Rückweg von einem Besuch in Israel am Mittwoch hatte Präsident Biden klargestellt, dass im Falle eines Angriffs von Hizbullah das US-Militär gemeinsam mit der israelischen Armee gegen die Gruppe kämpfen würde.
«Weder Gaza noch Libanon»
Bei allen diesen Kalkulationen und Vermutungen in der Region, bei allen «klugen» Analysen im Westen fehlt ein wichtiger Faktor, der alle Voraussagen zunichte machen kann: eine in ihrer überwiegenden Mehrheit unzufriedene iranische Bevölkerung.
Die «New York Times» zitiert in ihrem Bericht am Montag zwei hochrangige Quellen aus Teheran, man könne es sich nicht leisten, direkt in den Konflikt verwickelt zu werden, während man gleichzeitig darum kämpfe, dem zunehmenden Unmut der Bevölkerung zu begegnen. Das Feuer, das nach dem Mord an Mahsa Amini ausbrach, ist auch unter der Asche der massiven Unterdrückung sehr, sehr heiss.
Dies zeigte sich auch am vergangenen Mittwoch bei der Beerdigung des bekannten Regisseurs Daruish Mehrjui und seiner Frau. Der Doppelmord an diesem Ehepaar schockt Irans Film-Szene: Regielegende Dariush Mehrjui ebnete dem Neuen Iranischen Film den Weg und kämpfte gegen Zensur. Wieder ein staatlich bestellter Mord an einem herausragenden Intellektuellen, so die Volksmeinung.
Die Traufeier fand drei Tage nach dem Hamas-Krieg und auf dem Höhepunkt der offiziellen Propaganda für Palästina statt. Auch an diesem Tah wiederholte die Menge den reimenden Slogan نه غزه نه لبنان ، جانم فدای ایران «Weder Gaza noch Libanon, ich opfere mein Leben für den Iran». Seit Jahren ist diese Parole zu einem Markenzeichen der Proteste avanciert. Sie ist ein Zeichen der Ratlosigkeit der Regierenden in einer stürmischen Zeit voller Ungewissheiten auf allen Seiten.