Der Aussagewert von Ranglisten auf den Webseiten von Zeitungen und Magazinen ist unter Journalisten höchst umstritten. Vor allem dann, wenn deren Chefs diese Art der Hit-Paraden zum Gradmesser dessen machen, was guter Journalismus sein soll, und inhaltliche Konzepte entsprechend anzupassen beginnen.
Auf der Webseite der „New York Times“ war die Geschichte „Hitler-Ausstellung erforscht einen grösseren Kreis von Schuld“ am Samstag unter allen Ausland-Geschichten jene Story, welche die Leser des Blattes am häufigsten anklickten und weitermailten. Die Agentur-Meldung mit Bild vom Durchstich am Gotthard schaffte es gleichzeitig auf Platz fünf der am öftesten gemailten Geschichten. Bis am Sonntag war der Gotthard aus der Hit-Parade der „Times“ verschwunden, Hitler blieb.
Das nervöse Berliner Museum
Im Londoner „Independent“ landete der Artikel „Hitler-Ausstellung bricht Deutschlands letztes Tabu“ auf Platz drei der „beliebtesten“ Geschichten, hinter einem Bericht über die erste schwule Mustermesse in Torremolinos und das weltweite Geschäft mit Geiselnahmen, dessen Umsatz jährlich mehr als eine Milliarde Pfund betragen soll. In der „Washington Post“ und im „Guardian“ dagegen, die beide über die Ausstellung in einem „nervösen Berliner Museum“ („Guardian“) berichteten, waren die Leser vom Thema anscheinend weniger angetan: Die Hitler-Story tauchte dort nicht unter den meistbeachteten Artikeln auf.
Der Korrespondent der „New York Times“ schrieb, die Ausstellung in Berlin fokussiere auf jene Gesellschaft, die Hitler seinerzeit gefördert und an die Macht gebracht habe: „Nicht zum ersten Mal argumentieren Historiker, dass Hitler nicht so sehr die Deutschen in seinen Bann gezogen habe, als dass die Deutschen Hitler gross gemacht hätten“. Das Blatt zitiert Hans-Ulrich Thamer, den Chefkurator, laut dem die Ausstellung für Deutschland heute wichtiger sei als je zuvor angesichts eines erstarkenden Nationalismus, wachsender Fremdenfeindlichkeit und einer altersbedingten Abkoppelung von den Ereignissen der Nazi-Zeit, die ältere Deutsche fürchten lasse, die Vergangenheit könnte sich wiederholen.
Kultstätte für Rechtsradikale?
„SpiegelOnline“ indes meldete am Freitag, nach vier Stunden hätten bereits 2000 Menschen die Schau besucht, Rentner und Studenten, Berliner und Touristen: „Zusammen mit mehr als hundert internationalen Korrespondenten und 30 Kamerateams – allein vier aus Japan.“ Die Aufregung der Medien, meinte „SpiegelOnline“, habe auch mit den Sorgen im Vorfeld zu tun, die Ausstellung könnte zur Kultstätte für Rechtsradikale werden: „Hitler-Büsten, Hakenkreuz-Teppiche, Nazi-Spielzeug – das würde Neonazis gefallen.“
Die „Spiegel“-Reporter beschrieben, wie am Freitag kurz vor Mittag plötzlich ein Mann mit kahl rasiertem Kopf die Berliner Ausstellung betreten habe. Ihn zierte eine Tätowierung am Hals, die entfernt an ein Hakenkreuz erinnerte. Andere Besucher hätten den Mann nervös gemustert, bis ihn schliesslich der Korrespondent der „New York Times“ angesprochen habe. „Heute behaupten sie alle, sie hätten Hitler gehasst, dabei waren sie ganz begeistert“, habe der Kahlkopf dem Journalisten erzählt und dazu kurz den Hitlergruss imitiert. Im Bericht der „New York Times“ tauchen der Mann und das Zitat nicht auf. Dafür sagt Hans-Ulrich Thamer laut „Times“ an anderer Stelle: „Als Person war Hitler ein sehr gewöhnlicher Mensch. Er war nichts ohne das Volk.“