„Permanent Record“, eben auf Deutsch erschienen als „Permanent Record: Meine Geschichte“, zeigt, dass sich die Welt aufteilt in eine kleine Digital-Elite und uns, den grossen Rest.
Die Enthüllungen des amerikanischen Geheimdienst-Mitarbeiters Edward Snowden Ende Mai 2013 in einem Hotelzimmer in Hongkong erschütterten die Welt, nicht nur jene der CIA und ihrer mannigfaltigen Pendants in allen Teilen der Welt: Via digitale Übermittlungen, also unserem Computer und unserem Telefon, kann und wird potentiell jedermann ausspioniert, unbesehen von Staatsangehörigkeit, Rang, Namen, Verdachtsmomenten oder irgendeinem anderen primären Kriterium.
Snowden bewies dies, was die USA und ihre engsten nachrichtendienstlichen Verbündeten, namentlich Grossbritannien und Australien, anbelangt. Es ist praktisch mit Sicherheit anzunehmen, dass die grossen entsprechenden Rivalen, etwa China und Russland, dasselbe können und auch tun, wenn nicht schon damals, dann sicher seither.
Spannender Film
Snowdens Enthüllungen in Hongkong machte er gleichzeitig gegenüber der Dokumentarfilmerin Laura Poitiras und gegenüber Journalisten der englischen Zeitung „The Guardian“. Der Film erhielt zurecht 2015 den Oscar für den besten Dokumentarfilm des Jahres. Trotz minimaler Handlung gelang es Poitiras mit nüchternen Bildern, sowohl die Glaubwürdigkeit des Erzählers als auch den erschütternden Inhalt seiner Geschichte der totalen Überwachung fesselnd zu erzählen. Dasselbe kann nicht gesagt werden von der entsprechenden romanesken Verfilmung 2016 durch Oliver Stone; „Snowden“ war, ebenso zurecht, ein Flop.
Wenig unterhaltendes Buch
Poitiras Film unterhält auch besser als Snowdens Buch. Seine Erzählung beschränkt sich weitgehend auf eine lineare, teilweise langfädige Darstellung seiner Jugendjahre, geprägt von digitaler Besessenheit seit zartem Alter. Sowie auf die minutiöse Darstellung seines beruflichen Werdeganges. Offensichtlich hat er sich aber stets nur für die digitale und geheimdienstliche Seite seiner Tätigkeit interessiert. Nicht aber für seine Umgebung. Wie wäre es sonst möglich, dass er während Jahren als Teil der Mission der USA bei den Vereinten Nationen in Genf kaum etwas über sein Umfeld zu sagen hat. Und wenn, unterlaufen ihm grobe Schnitzer. So platziert er den Hauptsitz der in Wien beheimateten IAEA (Internationale Atomenergie-Organisation) in die Rhonestadt.
Innere Wandlung
Interessant ist einmal die Beschreibung seines Werdeganges vom ehrlichen Patrioten, aufgebracht über den terroristischen Angriff auf die amerikanische Seele anlässlich von „Nine-Eleven“. Als Folge engagierte er sich in der Verteidigung der Heimaterde, zunächst mit einem Versuch als physischer Rambo. Und als dies wegen körperlichen Handicaps nicht gelang, indem er seine schon als Teenager erstaunlichen Kenntnisse der Digitalwelt der amerikanischen „Cyber-Wehr“ zur Verfügung stellte.
Allein wurde ihm immer bewusster, dass er damit Teil eines gigantischen Räderwerks wurde, das alles verschlang, nicht nur wirkliche, sondern auch vermeintliche „Feinde“ und überhaupt alle und alles. Wie und warum er den Weg von dieser Erkenntnis zur Tat – Notwendigkeit in seinen Augen und jener seiner Freunde, Landesverrat in jenen des offiziellen Amerikas und seiner Feinde – beschritt, zählt zu den interessantesten Passagen des Buchs. Er hat sich dabei offensichtlich stets vergegenwärtigt, dass er damit nicht nur seine beruflichen, sondern auch persönlichen Brücken zu seinem bisherigen Leben verbrannte. Immerhin ist einem neuen Interview mit dem „Guardian“ zu entnehmen, dass er seine langjährige Lebensgefährtin nun doch im russischen Exil heiraten konnte.
Snowden Effekt
Die Bedeutung von Snowdens Enthüllungen geht weit über seine Lebensgeschichte hinaus. Seither ist sich zumindest die denkende Weltbevölkerung bewusst, dass jeder digitale Kontakt bleibt und sich letztlich der eigenen Verfügung entzieht. „Scripta manent“, Geschriebenes bleibt; digital Geschriebenes und Gesagtes bleibt nicht nur, sondern kann auch beliebig verwendet und auch verformt werden. Es ist wohl nicht übertrieben zu behaupten, dass der „Snowden Effekt“ eine der Hauptursachen für Skepsis gegenüber dem Digitalbereich darstellt. Seither müssen wir uns bewusst sein, dass „the net“, und alles danach ebenso gut wie böse sein kann.
Digital-Elite
Die wohl frappierendste Erkenntnis aus Snowdens Buch ist aber eine, welche dem Autor selbst kaum bewusst sein dürfte: Wenn man nicht wie er bereit ist, von jüngstem Alter an sein ganzes Leben in den Dienst der digitalen Welt zu stellen, wird man dessen Hinter- und Abgründe kaum je wirklich verstehen können. So hat sich wohl bereits weltweit eine kleine Digital-Elite herausgebildet, deren Tätigkeit ebenso zur Errettung der Welt als auch zu deren Zerstörung beitragen kann. Es wird die Aufgabe von Politik und Gesellschaft sein, diesen Flaschengeist und seine Zauberlehrlinge zu zähmen, durchsichtig zu machen und zu kontrollieren.