Es ist beispiellos und beunruhigend. Der amerikanische Journalist Glenn Greenwald, der Dokumente publiziert, die ihm Snowden übergeben hat, erklärt per Videoschaltung aus Rio de Janeiro auf die Frage deutscher Journalisten im ARD-Talk «Beckmann», ob er ernsthaft davon ausgehe, dass er auf offener Strasse erschossen werden könnte: Ja, er werde kriminalisiert und fühle sich von seiner eigenen Regierung bedroht.
Snowden hat mit seinen Enthüllungen aufdeckt, dass wir zwanzig Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges von westlichen Geheimdiensten flächendeckend ausspioniert werden. Dabei hat die Überwachung eine ganz neue Dimension erreicht: Die Nachrichtendienste arbeiten eng mit der Wirtschaft zusammen. Den Grossteil ihrer Informationen saugen die Geheimdienste von Internetkonzernen wie Facebook, Google oder Microsoft ab.
«Komplizen des Terrorismus»
Edward Snowden und Glenn Greenwald wird vorgeworfen, sie seien Komplizen des Terrorismus und betrieben «partisan journalism». Snowdens Leaks, so in einem Leitartikel der «Washington Post», schadeten «dem Kampf gegen den Terrorismus» und «legitimen Geheimdienstoperationen». David Brooks von der «New York Times» bezichtigte Snowden, «Ehrlichkeit und Integrität verraten» zu haben. Und für Jeffrey Toobin («New Yorker») ist Snowden ein «Narzisst, der ins Gefängnis gehört.»
Meinungen und Texte, die vom Weissen Haus hätten geschrieben sein können, erscheinen heute in amerikanischen Medien, die in den 70er Jahren weltweit bewunderte Vorkämpfer des Enthüllungsjournalismus waren. Engagierte Journalisten und Verleger waren damals mutig genug, die politische Macht herauszufordern und sorgten dafür, dass in den USA «Checks and balances» doch noch funktionierten. Der Rücktritt Präsident Nixons, das Ende des Vietnamkriegs waren Sternstunden des «partisan journalism» und der Demokratie. Das mussten damals auch Amerikakritiker anerkennen.
Heute versuchen prominente US-Journalisten, Snowden und Greenwald zu diskreditieren. Sie üben Kritik an den Enthüllern, nicht am Enthüllten und unterschlagen damit die wichtige Rolle des «partisan journalism» in der Geschichte der USA. Zum Beispiel: Der Journalist Thomas Paine rief mit seiner Streitschrift «Common Sense» zum Widerstand gegen die Tyrannei der britischen Kolonisatoren auf. Amerikanischer Journalismus begann mit einer Rebellion gegen den Staat.
Jefferson: Sicherheit nur dank freier Presse
Zu den Verfassern der Unabhängigkeitserklärung gehörte Thomas Jefferson. Er sorgte dafür, dass Zeitungen und Zeitschriften im ganzen Land verbreitet wurden, weil er überzeugt war, dass «die Presse die einzige Alarmglocke der Nation» sei und nur «eine freie Presse Sicherheit garantiert». Was würde Jefferson heute über den Zustand seines Landes sagen, in dem die nationale Sicherheit zur Staatsreligion erklärt wurde, welcher auch verfassungsrechtlich garantierte Bürgerfreiheiten geopfert werden?
«Partisan journalism» kämpfte für die Abschaffung der Sklaverei. Die sogenannten «Muckraker» (Schmutzaufwirbler) deckten soziale Missstände und Korruption im frühkapitalistischen Amerika auf. In den von Joseph Pulitzer verlegten Zeitungen kamen kritische Journalisten wie Upton Sinclair zu Wort. Und Zeitschriften wie «Harpers», «Atlantic»» oder «Cosmopolitan» trugen dazu bei, die politische Basis für die Reformen des New Deal zu schaffen, der Amerika half, die Wirtschaftskrise zu überwinden und einen organisierten Kapitalismus zu schaffen.
Fehlende Distanz zur wirtschaftlichen und politischen Macht
Als 2008 mit der Bankenkrise der Kapitalismus erneut ausser Kontrolle geriet, hatte das Frühwarnsystem eines kritischen Journalismus versagt. Für den bekannten Experten der US-Medienszene, Ben Bagdikian, war das keine Überraschung. «Amerikas Leitmedien haben noch weniger Distanz zu Wall Street als früher. Sie sind unter der Kontrolle jener Interessen, die sie kontrollieren sollten.»
Den Vorwurf fehlender Distanz müssen sich heute die amerikanischen Medien im Fall Snowden erneut gefallen lassen. Janine Gibson, Amerika-Chefin des «Guardian», warf der amerikanischen Konkurrenz vor, bei Fragen der nationalen Sicherheit an einem «generellen Mangel an Skepsis» zu leiden. Kritisches Hinterfragen gelte seit 9/11 als «unpatriotisch».
Carter: «Keine funktionierende Demokratie»
Klartext wagt Ex-Präsident Jimmy Carter (1977 – 81) zu sprechen. Er nimmt Snowden in Schutz, seine Aussagen seien «langfristig nützlich, da sie die Öffentlichkeit informieren.» Carter behauptet: «Amerika hat derzeit keine funktionierende Demokratie.» Eine bemerkenswerte Feststellung eines ehemaligen US-Präsidenten, die aber in den USA kaum zur Kenntnis genommen worden ist.
Und wie reagieren die europäischen Regierungen? Die Bürger müssten eben selber für ihre Sicherheit sorgen und ihre Daten verschlüsseln, empfiehlt etwa der deutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich nach einem Besuch in Washington. Solch hilflose Ratschläge bestätigen nur, dass wir uns in einer Systemkrise befinden, die weit über den fehlenden Schutz der Privatsphäre und das Szenario einer drohenden totalen Überwachung hinausgeht.
Wahrscheinlich braucht es eine neue Occupy-Bewegung – und dies nicht nur in den USA. Eine lethargische Öffentlichkeit muss aufgeklärt werden, dass der Angriff aus der virtuellen Welt sehr wohl etwas mit unserer Realität zu tun hat.