Sollte der Kampf dagegen nicht gewonnen werden, stehe die nationale Sicherheit auf dem Spiel, sagt der mächtigste Mann des Landes, Ayatollah Ali Khamenei. In keinem anderen Land der Welt werden im Verhältnis zur Einwohnerzahl so viele Drogen konsumiert wie im Iran. Der Gottesstaat ist zudem Weltrekordhalter bei Hinrichtungen und Haftstrafen wegen Drogenkriminalität. Doch nun gesteht ein prominenter Insider: „Wir haben den Drogenkrieg verloren.“
Machtlose Mächtige – ihr Gremium nennt sich Generalstab. Zwölf Männer gehören ihm an. Sie repräsentieren den innersten Zirkel der Staatsmacht des Iran. Der Präsident selbst ist der Stabschef, sein Geheimdienst- und sein Innenminister gehören dem Stab ebenso an wie der Oberkommandant der Sicherheitskräfte und der Chef der paramilitärischen Truppen. Für Propaganda und psychologische Kriegsführung ist der Chef des staatlichen Rundfunks zuständig, und natürlich darf der Minister für Kultur und islamische Führung nicht fehlen. Der Generalstab wurde vor 28 Jahren ins Leben gerufen, um einen ebenso effektiven wie erbarmungslosen Krieg zu führen. Doch der scheint aussichtslos zu sein: Er dauert bis heute an und wird zunehmend heftiger und teurer.
Der Krieg nach dem Krieg
Der jahrzehntelange Feldzug ist selbst eine Kriegsfolge. Der achtjährige Waffengang gegen den Irak von 1980 bis 1988 hatte im Iran eine Wunde hinterlassen, die nicht zu heilen war. Man hatte Saddam Hussein besiegen und über die irakische Stadt Kerbela bis nach Jerusalem marschieren wollen: verloren und vergebens. Statt dessen kehrten aus dem brutalen Krieg hunderttausende desillusionierte, körperlich und psychisch zerbrochene junge Männer heim. Die Parolen, mit denen sie in den Kampf gegangen waren, hatten sich als leere Phrasen herausgestellt, die Versprechungen als Lügen. Geblieben waren zerstörte Städte, fast eine Million Gefallene und unzählige Invalide.
Das Millionenheer der Heimkehrer musste nun die Sinnlosigkeit dieses mörderischen Schlachtens zwischen zwei muslimischen Nationen verarbeiten – jeder für sich allein. Denn die Machthaber hatten Wichtigeres zu tun: Sie mussten ihre eigene, ins Wanken geratene Macht stabilisieren und hatten dabei keine Zeit dafür, sich um die Seelen der Veteranen zu kümmern. Das wäre ein Luxus gewesen, den man sich in diesen turbulenten Zeiten nicht leisten konnte.
Alle Feinde kommen aus dem Ausland, auch die Drogen
Doch die Wirklichkeit liess sich nicht leugnen. Zeitungen berichteten von einer neuen Invasion, die das ganze Land zerstöre, über unzählige Tote und zerstörte Familien. Feinde der Islamischen Republik überschwemmten das Land mit Drogen, die aus dem Nachbarland Afghanistan kämen. Der Staat, die Armee und die Revolutionsgarden müssten einschreiten. Man war also gezwungen, sich für einen neuen Krieg zu rüsten, und so wurde der Generalstab zur Drogenbekämpfung geboren. Ein Stab, der sich in seiner Zusammensetzung kaum von jenem unterschied, der den achtjährigen Krieg gegen den Irak geführt hatte.
Und seit der Gründung des Stabs ist es ein Ritual geworden: Ein neu gewählter Präsident ruft als Stabschef das Gremium gleich in den ersten Wochen nach seinem Amtsantritt zusammen, hält eine flammende Rede, erläutert seine Grundsätze für eine erfolgreiche Drogenbekämpfung und ernennt oft schon in der ersten Sitzung einen neuen Operationschef. Der ist stets ein Kommandant der Revolutionsgarden und gemäss dem Statut des Stabs dessen Vizechef. So tat es auch Hassan Rouhani kurz nach seiner Wahl Ende April 2013. Seine damalige Rede war weder blumig noch propagandistisch, sondern sachlich und nüchtern: Rouhani beschrieb die Dimensionen der Drogengefahr, die eine ganze Generation zu vernichten drohe, Familien zerstöre und schliesslich das gesamte Land zugrunde richten werde. Er betonte seine Entschlossenheit, energischer als alle vorherigen Präsidenten gegen das Drogendrama vorzugehen, und am Ende seiner Rede fügte der Präsident hinzu: „Traut Euch, den jungen Menschen mehr Freude und Freiraum zu ermöglichen, damit sie nicht in Drogen Zuflucht suchen. Notwendig für die Drogenbekämpfung sind Hoffnung und Lebensfreude.“
Heilige Erde verträgt keine Freude
Rouhanis Bitte um mehr Freiraum und Freude wurde damals von fast allen Freitagspredigern im Land unverzüglich und unmissverständlich abschlägig beschieden. Den Anfang machte Ayatollah Alamolhoda, der mächtige Freitagsprediger aus Maschhad im Nordosten des Landes. Er erklärte alle staatlichen Genehmigungen für öffentliche Musikkonzerte, Theateraufführungen oder ähnliche Veranstaltungen für null und nichtig. Seine Stadt, wo der achte Imam der Schiiten begraben liegt, sei heilige Erde wie Mekka in Saudi Arabien, hier dürfe in der Öffentlichkeit nichts Unmoralisches stattfinden.
Und in der Islamischen Republik ist Erde fast überall heilig, zumal es in fast jedem iranischen Ort ein heiliges Mausoleum gibt. Also folgten dem Freitagsprediger aus Maschhad bald andere Prediger in anderen Städten. Konzert-, Theater- oder andere Aufführungsgenehmigungen erteilt üblicherweise das Ministerium für Kultur und Islamische Führung. Rouhanis erster Kulturminister musste nach mehrmonatigem zähen Kampf zurücktreten, weil er gewagt hatte, die Prediger zu fragen, warum sie die staatliche Autorität untergraben. Rouhani hat zwar inzwischen einen neuen Minister, doch seit fast zwei Jahren finden im Iran kaum noch öffentliche Konzerte oder andere Aufführungen statt.
Wahrheiten an heiligem Ort
Wo iranische DrogenkonsumentInnen sich treffen und was sie dann tun, darüber berichteten kürzlich anerkannte Experten, die ihr ganzes Leben der Sucht- und Drogenbekämpfung gewidmet haben – erstmals unzensiert, offen und daher beängstigend.
„Drogen, Wahrheiten und Geheimnisse“, so lautete der Titel der Veranstaltung, die Mitte Januar in Djamaran stattfand, einem bekannten, selbst fast heiligen Vorort im Norden Teherans, wo Republikgründer Ayatollah Ruhollah Khomeini seine letzten Lebensjahre verbrachte. In dessen Wohnhaus betreibt heute sein reformorientierter Enkel Hassan ein Institut für soziale Fragen. Dort bilanzierten die Experten an diesem kalten Winterabend Rouhanis Drogenpolitik und die Gründe des Systemversagens.
Als erster nahm Ali Hashemi das Wort: Man solle wissen, worüber man rede, bevor man über Lösungen diskutiere. Der 70-jährige Hashemi ist seit Gründung der Islamischen Republik mit Drogenbekämpfung befasst. Dazu gab er nicht nur Khomeini Ratschläge, auch mit dem jetzigen Revolutionsführer Khamenei spricht er regelmässig über Sucht und Drogen im Iran. Unter dem Reformpräsidenten Mohammad Chatami war Hashemi Operationschef im Generalstab für Drogenbekämpfung. Ahmadinedschad hat ihn entlassen, doch bis heute leitete er die Drogenkommission im Schlichtungsrat, einem Verfassungsorgan, das zwischen Parlament und Regierung vermitteln soll. Hashemi ist, wenn es um Drogenbekämpfung im Iran geht, Insider, Beobachter und Praktiker zugleich.
Zwei Minuten für Drogenbeschaffung
An diesem Abend umriss er nüchtern und sachgerecht das ganze Drama. Zunächst berichtete er, wie schnell und einfach Süchtige im Gottesstaat an ihren Stoff kommen: „Kürzlich war ich im Norden Irans am Kaspischen Meer und habe dort eine Gruppe Süchtiger aufgesucht. Als ich sie fragte, wie sie sich ihre Drogen beschaffen, erklärten sie mir, dass es nach einem Anruf höchstens zwei oder drei Minuten dauere – und der Stoff sei da.“ In der Grossstadt Teheran betrage diese Zeit sieben bis zehn Minuten, sagte Hashemi – und machte so alle offiziellen Erfolgsmeldungen der letzten 38 Jahren zunichte. Hashemi, das wurde an diesem Abend deutlich, sieht durch den Drogenmissbrauch die nationale Sicherheit in Gefahr: Er sucht seit 38 Jahren nach Lösungen und scheint sich jetzt als gescheitert anzusehen.
„Im ersten Jahr der Islamischen Republik stellten wir elf Tonnen Rauschgift sicher, in diesem Jahr 786 Tonnen“, erklärte der Experte. Und das sei nur ein Zehntel der tatsächlich auf dem Markt vorhandenen Menge. Aber mit Zahlen betreibe man im Iran Politik, und was Drogenkonsum angehe, hätten die Statistiken mit der Realität wenig zu tun. „Als vor vier Jahr gesagt wurde, im Iran gebe es 700‘000 Süchtige, war das schlicht gelogen“, so Hashemi. Schon unter Rouhanis Vorgängerregierung seien es in Wahrheit 2,5 Millionen gewesen: „Und heute 4,8 Millionen.“
„Das ist, was wir wissen“, sagte Hashemi. Doch warum dieser Anstieg und woher kommt der Stoff?
„Als wir die Islamische Republik gründeten, wurden in unserem Nachbarland Afghanistan jährlich 200 Tonnen Rohopium geerntet. Heute werden dort nach offiziellen Angaben 6‘000, in Wahrheit aber 10‘000 Tonnen Opium produziert. Und das kommt hauptsächlich über den Iran auf den Weltmarkt“, so der Experte.
Je weiter Hashemi an diesem Abend seine Statistiken vorträgt und je mehr er aus seiner Erfahrung erzählt, umso klarer stellte sich heraus, dass die Spitze der islamischen Republik sich der Dimensionen dieser Gefahr bewusst ist. Auf höchster Ebene sieht man den Drogenkonsum und die Suchtproblematik als Existenzfrage für den Gottesstaat als Ganzes.
„In letzter Zeit hatten wir zwei lange Sitzungen beim Revolutionsführer, bei denen wir zwei Nächte lang ausschliesslich über Drogenkonsum sprachen. Neben der Kriegsgefahr und Umweltkatastrophen sind es die Drogen, die unsere Existenz gefährden: Darin sind sich alle Experten einig, einschliesslich der geehrte Revolutionsführer.“ Drogensucht sei „eine Frage der nationalen Sicherheit“, so Hashemi weiter – und er präsentierte Zahlen, die diese Einschätzung untermauern.
Das Ende des Leugnens
15 Millionen iranische Familien hätten mindestens einen Süchtigen zu Hause. Diese Realität sei so bedrückend, dass man sie mit frisierten Statistiken nicht mehr verstecken könne. Täglich stürben acht IranerInnen wegen Drogenkonsums. Am gleichen Tag kämen 100 Personen erstmals mit Drogen in Berührung. Vor 20 Jahren seien etwa fünf Prozent der Süchtigen Frauen gewesen, heute seien es doppelt so viele: „Wahrscheinlich ein Ergebnis der Gleichberechtigung“, fügte Hashemi süffisant hinzu.
Die weiteren an dem besagten Abend präsentierten Zahlen offenbarten die Machtlosigkeit des Staates.
„Wir haben seit der Revolution 18 Millionen Menschen verhaftet, von denen 65 Prozent direkt oder indirekt mit Drogen zu tun hatten.“ Nirgendwo sässen so viele Menschen im Gefängnis wie in der islamischen Republik Iran: mehr als 200 pro hunderttausend EinwohnerInnen, doppelt so viele wie in anderen asiatischen Staaten, gestand Ali Akbar Yassaghi, der Chef der iranischen Gefängnisverwaltung, bereits vor Jahren. Und „in dieser Disziplin sind wir immer noch Weltrekordhalter“, so Ali Hashemi an diesem Abend.
Am Ende seines Vortrags kam er zu einem weiteren Rekord, den die Islamische Republik seit Jahren unangefochten hält: die Todesstrafe. Für 2016 hat die neue UN-Menschenrechtsbeauftragte noch keine Zahlen vorgelegt. Der alte Beauftragte Ahmad Shaheed hatte vergangenes Jahr am Ende seiner Mission erklärt, seit 2005 hätten Exekutionen im Iran „exponentiell zugenommen“. In keinem anderen Land der Welt würden im Verhältnis zur Bevölkerungszahl mehr Menschen hingerichtet als im Iran, berichtet regelmässig auch Amnesty International. Offiziell wurden im vergangenen Jahr 1‘000 Menschen hingerichtet. Die meisten von ihnen waren Drogenschmuggler oder -konsumenten.
Doch selbst diese drakonische Strafe sei wirkungslos geblieben. Man müsse umdenken, so Hashemi Nie habe es so viel Drogenmissbrauch gegeben wie heute: „So kommen wir nicht weiter.“
Ein Dorf ohne Männer
Er ist nicht allein. Auch die iranische Vizepräsidentin Shahindokht Molaverdi warnte bereits öfter davor, dass mit den Todesstrafen lediglich Familien ihrer Väter beraubt würden und sich dennoch nichts ändere. „Wir haben ein Dorf in der Provinz Sistan, in dem es keinen Mann mehr gibt, denn alle sind wegen Drogendelikten hingerichtet worden“, sagte die Vizepräsidentin vor einem Jahr vor Journalisten und fragte: „Was wird aus den Frauen und Kindern dieses Dorfes?“
Es werde im Parlament eine Gesetzesänderung beraten, die Todesstrafe auf Drogenschmuggel solle damit in Haftstrafen umgewandelt werden. „Hoffentlich gibt es bald ein Ergebnis“, hatte Frau Molaverdi vor einem Jahr gesagt – und sie hofft immer noch.
Der kalte Abend am Wohnort des Gründers der Islamischen Republik jedenfalls endete mit dem Fazit: „Wir verfolgen und töten den Anbieter, weil wir den Abnehmer nicht sehen wollen.“
Persischsprachige Quellen und weiterführende Links:
www.jamaran.ir, www.enghelabe-eslami.com, zeitoons.com/18685, www.dchq.ir, www.dw.com, mousavi47.mihanblog.com, www.adna.ir/tag, www.radiofarda.com/a, www.hamshahrionline.ir, www.ehyanews.com
Wir publizieren diesen Text mit freundlicher Genehmigung des Iran- Journal.