Vor rund 12’000–15’000 Jahren ging die letzte Eiszeit zu Ende; damit begann hier die Bodenbildung. In den günstigen Lagen erreicht Boden heute eine Mächtigkeit von vielleicht 1–1,5 Metern. Boden „wächst“ demnach rein kalkulatorisch rund 0,1 mm pro Jahr, wenn man von Wachstum sprechen kann; oft ist es eine innere Ausdifferenzierung der obersten Erdkruste.
Dazu braucht es ein erträgliches Klima mit genug Niederschlägen, vielfältige Mineralien aus dem Ausgangsgestein, Pflanzen und vor allem Bodenlebewesen: eine Vielfalt von Mikroorganismen, Algen, Pilzen, Insekten und Würmern lebt im Boden.
Umbau
Sie bauen das abgestorbene pflanzliche Material ab- und um, mischen es mit den durch die Verwitterung frei werdenden Mineralien und lassen ein völlig neues Material entstehen, namens „Boden“. Dieser Umbau der Erdkruste geschieht tagtäglich, sehr viel intensiver während der warmen Saison, und er geschieht weitgehend unbemerkt. Wir sehen nichts! Beziehungsweise, wir sehen „nur“ das Ergebnis jahrhundertealter Prozesse, ein rötlich-gelblich-bräunlich-schwärzliches, oft bröckelndes Material, das – und jetzt kommt der springende Punkt – nur dann sichtbar wird, wenn der Boden „verletzt“ wird! Sonst ist Boden nämlich immer bedeckt und versteckt unter einer mehr oder weniger grünen Pflanzendecke.
Ursprünglich als baumbestandener Wald, mit einer zusätzlichen „Decke“ aus mehr oder weniger abgestorbenem Laub oder Nadeln; im Landwirtschaftsgebiet als Wiese und Weide mit typischen Pflanzen. Oder, wenn der Bauer pflügt oder „ackert“, reisst er den Boden auf und dieser wird sichtbar. Der Bauer sät, gilt es doch, die warme Saison zu nutzen. Und bald ist der Boden mit einer Kulturpflanze zugedeckt und mehr oder weniger unsichtbar.
Spezialfall: Wald
Natürlich sehen wir Boden noch anderswo, z. B. bei Erosionsvorgängen während Starkniederschlägen, bei Auflandung von Bodenmaterial in einem Bachbett oder an einem Fluss; bei Baustellen, wenn eine Grube geöffnet wird und das Bodenmaterial weggebaggert und angehäuft oder wegtransportiert wird. Das sind eher die Ausnahmen.
Der Wald ist ein Spezialfall. Wir nutzen ihn, indem wir Bäume fällen (und ein paar Beeren und Pilze sammeln) und nicht, indem wir den Boden aufreissen. Der Wald ist weitgehend in seiner Ausdehnung geschützt, der Waldboden damit auch. Wir brauchen den Wald, nicht unbedingt wegen des Holzes, eher wegen seiner grossen Leistung als CO₂-Pumpe, als „Luftreinigungsanlage“, als „Regenwassersammler“ und zum „Kühlhalten“ der Trinkwasserreserven, etc. Nicht zuletzt braucht ein wachsender Teil der Bevölkerungden Wald schlicht, um zur Ruhe zu kommen, sich zu erholen, die frische Luft einzuatmen, sich zu entspannen. Der Waldboden ist dabei von zentraler Bedeutung, dient er doch als Wurzelraum, als Nährstoffreserve, als Wasserspeicher, als CO₂-Speicher, als ökologischer Puffer für viele Funktionen.
„Pflanzblätz“
Waldboden ist noch viel unsichtbarer als Landwirtschaftsboden! Boden ist im Alltag nicht sichtbar – ein wesentlicher Punkt, weshalb wir uns nicht damit beschäftigen. Den praktischen Umgang mit natürlichem Boden haben wir der Landwirtschaft „zugeschoben“; sie macht das für uns. Wir, die wir in der Stadt oder deren Umgebung leben, brauchen keinen natürlichen Boden im Alltag. Ein paar Bäume und Sträucher, ein wenig Grün in Form von Rasen genügen den meisten von uns. Das Essen wird für uns produziert. Ein paar wenige Prozente der Erwerbsbevölkerung sind im ersten Sektor tätig. Alle andern sind weit weg von der Ernährungswirtschaft.
Dem ist noch nicht so lange so: während des zweiten Weltkriegs hat sogar die städtische Bevölkerung wieder lernen müssen, sich zum Teil selber zu ernähren, aus dem eigenen Garten, oder sonst von einem zugeteilten „Pflanzblätz“. Der Bund hatte eine „Anbauschlacht“ angeordnet, ein etwas martialischer Ausdruck für die möglichst autarke Ernährung der Schweizer Bevölkerung in der damaligen Krisenzeit.
Dreck
Den älteren Jahrgängen ist das noch ein Begriff; sie haben eine Vorstellung davon, was es heisst, selber Kartoffeln setzen, pflegen und ernten zu müssen. Heute machen das nur noch wenige Leute. Es gibt zwar ein wachsendes Interesse an Schrebergärten und „Pflanzblätzen“; und „urban farming“ ist oder war etwas in Mode. Aber machen wir uns keine Illusionen; die grosse Mehrheit der Bewohner unseres Landes wird quasi ernährt. Ein Zurück wäre sehr schwierig. Wir haben mit natürlichem Boden also direkt nichts (mehr) zu tun, andere sorgen für unsere Ernährung.
Ein weiterer Punkt, wieso wir Boden „vergessen“ können. Boden – nichts als Dreck! So lautete eine Schlagzeile in den siebziger Jahren. Es stimmt: kommt man mit Boden direkt in Kontakt, wird man „dreckig“. Der Dreck klebt an den Händen, an den Schuhen und wehe, man kommt so nach Hause! Man sieht ungepflegt aus, hat sich schmutzig gemacht, und als Kind gehört man in die Badewanne ... Zudem klebt dieses Material so fest an den Sohlen und man braucht ziemlichen Aufwand, es loszuwerden. Dass es sich dabei um ein typisches Gemisch von Körnern, Wasser und etwas organischer Substanz handelt, wissen die wenigsten; das interessiert ja im Moment auch nicht! Hauptsache man wird wieder sauber. Boden ist leider ein grundsätzlich negativ konnotierter Begriff. Dieser Umstand, bzw. diese Eigenschaft trägt einiges dazu bei, dass wir damit nichts zu tun haben wollen.
Boden kaufen
Boden unterliegt bei uns der Eigentumsordnung. Man kann Boden kaufen und wird Eigentümer eines Stückes der Erdkruste resp. der Erdoberfläche. Wieso es zu dazu kommen konnte, müssten andere, die es besser wissen, erklären. So kann man mit Boden handeln, man kann einen Fläche kaufen oder verkaufen; natürlich gibt es gewisse Schranken und Nutzungsvorschriften, die zu beachten sind.
Nicht überall auf der Welt ist dem so; viele Urvölker haben ein anderes Verhältnis zum Boden. Sie sehen sich nicht als Besitzer, können sich das kaum vorstellen und nutzen das Land gemeinsam. Auch bei uns gibt es solche gemeinschaftlichen Formen von Landbesitz, z. B. die grossen Korporationen in den Innerschweizer Kantonen sind Organisationen mit Gemeinbesitz der Bevölkerung. Will man etwas ändern an der Nutzung, muss das von allgemeinem Interesse sein und darüber wurde und wird oft abgestimmt.
Bauen = Zerstörung
Ausser in der Land- und Forstwirtschaft ist Bodenbesitz bei uns immer mit einer baulichen oder Geschäftsidee verbunden. Man will auf einem Stück etwas Bauliches realisieren: ein Gebäude, ein Gewerbe, einen Sportplatz oder ein Schulhaus. Dort spielt vor allem die Fläche eine Rolle, die beiden Dimensionen eines Stückes Land. Deshalb wird sehr genau gemessen und vermessen, wo das betreffende Stück Land liegt und wie gross es ist. Marksteine zeigen, wo die Grenzen zum Nachbarn liegen.
Diese dritte Dimension, die Bodenmächtigkeit – also der lebendige Boden – ist dabei unwesentlich, sie stört allenfalls. Der Akt des Bauens ist für den natürlichen Boden in der Regel dessen vollständige Zerstörung! Der Boden wird abgetragen, verkauft, entsorgt, wegtransportiert. Auf dem betreffenden Standort ist er kaum mehr vorhanden, denn dort kommt nun Beton, Ziegelstein, Asphalt, neuerdings sehr verwerflich auch einfach pflegleichter Schotter, etc. zum Zug. Bis dort wieder natürlicher Boden entstehen kann, wären Jahrhunderte des Nichtstuns erforderlich.
Der Preis eines solchen Stückes Land ist keine Funktion seines natürlichen Zustandes, sondern seiner Parzellenform und der Lage; das hat viel mit Raumplanung zu tun. Das Land, nicht der Boden, erfährt durch raumplanerische Regelungen je nachdem eine ungeheure monetäre Wertvermehrung oder auch -verminderung; je wertvoller ein Stück Land, desto prekärer ist der Standort ökologisch gesehen. Wie klug wir in den letzten Jahrzehnten mit dem Boden umgegangen sind, muss an anderer Stelle gewürdigt werden. Will man bauen, wird der natürliche Boden meist vollständig zerstört; es interessiert hier nur die Fläche!