Mit Recht wird über die Frage diskutiert, ob die KI sich möglicherweise zum Schaden der Menschheit entwickelt, indem sie sich an die Stelle der herkömmlichen Vernunft setzt. Eine andere Frage wäre aber dringlicher: Wie kommt es, dass die Menschheit wieder einmal in einen Zustand kollektiven Wahns abgleitet? Wie sind die neuen Diktaturen und Kriege zu deuten?
Kriege sind in die Gegenwart ebenso zurückgekehrt wie die Diktatoren. Diese Diktatoren orientieren sich mehr und mehr an einer Vergangenheit, die mit ihren Massenschlächtereien nicht nur die Humanität, sondern auch die Vernunft ausser Kraft gesetzt haben. Man dachte, das sei eine buchstäblich vergangene Zeit. Denn an deren Ende fand die Menschheit wieder zur Vernunft zurück und schuf humane politische Ordnungen, die über Jahrzehnte zumindest in Europa Frieden brachten und global einen finalen Krieg verhinderten.
Eine Art des Wahns
Diese Vernunft ist wieder brüchig geworden. An ihre Stelle sind Hassparolen getreten, die die Gewalt anfeuern. An den Spitzen von China und Russland stehen Führer, die sich auf Mao und Stalin berufen. In Amerika beherrscht ein Kandidat die Schlagzeilen, der bei nüchternem Urteil bestenfalls als drittrangiger Komiker eine Rolle spielen dürfte, aber sich jetzt schon als neuer Diktator im Stil seiner bewunderten Vorbilder sieht. Und in Israel herrscht eine Regierung, die vorgibt, Frieden anzustreben, mit ihrem Vorgehen aber mehr und mehr Hass schürt und damit den Terrorgruppen zahllose neue Mitglieder zuführt, so dass der Hass und die Gewalt kein Ende nehmen werden. Wie kommt es zu diesem Absturz der Vernunft?
Wenn es sich um ein völlig neues Phänomen handeln würde, liesse sich argumentieren, dass die Menschheit mit dieser Art des Wahns noch keine Erfahrungen hat. Aber mittlerweile ist kaum etwas so gut erforscht und analysiert wie der Aufstieg der Diktaturen im vergangenen Jahrhundert und der Verlauf der beiden Weltkriege. Mit Recht wird der Erste Weltkrieg als «Urkatastrophe» bezeichnet, weil er im Zeichen der damaligen Kultur schier undenkbar war. Wie konnten Nationen, deren Philosophie, deren Wissenschaft, Architektur, Musik und Malerei bis heute Staunen und Bewunderung erregen, jahrelang aufeinander mit immer höher entwickelten industriell gefertigten Tötungsmaschinen aufeinander eindreschen?
Das kollektive Verhängnis
Aus diesen Katastrophen wissen wir einiges: Wir wissen zum Beispiel, dass immer mehr Waffen Kriege nicht beenden, sondern dass es dazu anderer Einflüsse bedarf. Wir wissen ebenfalls, dass Diktatoren die Welt in Abgründe führen. Nur demokratische Institutionen, die aus jahrhundertelanger Erfahrung, Auseinandersetzungen und Debatten hervorgegangen sind, sorgen für gewaltfreien Ausgleich unterschiedlicher Ansprüche in einer Gesellschaft. Wer sie zerstört, zerstört alles. Und wir wissen nicht zuletzt, dass zum Frieden zwischen Nationen die grundsätzliche Bereitschaft gehört, wechselseitige Ansprüche fair und ehrlich auszugleichen.
Aber immer wieder geht dieses Wissen verloren. Das heisst aber nicht, dass es illusionär wäre. Das Ende des 30-jährigen Krieges von 1618 bis 1648 war nur möglich, weil sich die hoffnungslos verfeindeten Akteure am Ende zu gemeinsamen Abkommen bereit fanden. Es folgte eine lange Friedensperiode. Und der englische Historiker Ian Kershaw stellt mit Verwunderung fest, dass 1945 die Vernunft, die 30 Jahre lang abwesend war, zurückkehrte und aus der Hölle der beiden Kriege herausführte. Das war möglich, weil sich ein lange abwesender Geist des Friedens wieder angemeldet hat.
Wie kann es sein, dass die Menschheit sehenden Auges die Wege in neue Abgründe beschreitet? Ist es ein kollektives Verhängnis, das mit Vernunft gar nicht zu bekämpfen ist? Man müsste dann annehmen, dass es sich um eine Art Krankheit handelt, deren katastrophalen Verlauf jeder Arzt kennt, aber auch weiss, dass es dagegen keine Medikamente gibt.
Das Grosse beginnt im Kleinen
Aber vielleicht gibt es Therapien. Sie sind schwach und erinnern darin an Homöopathie. Es gilt, mit Beharrlichkeit wieder und wieder an die Abgründe zu erinnern, durch die die Menschheit schon gegangen ist. Das ist nicht illusionär.
Der Ostblock brach auch zusammen, weil sich einige wenige Dissidenten für die Freiheit einsetzten. Diese Dissidenten wurden am Anfang in keiner Weise ernst genommen – auch nicht von westlichen Politikern. Das Grosse beginnt aber im Kleinen. Dafür braucht es Menschen die daran glauben und sich dafür einsetzen. Die Brüche in der Vernunft werden von dort aus geheilt, von nirgendwo sonst. Wir leben nicht mehr unter den Zwängen des ehemaligen Ostblocks. Aber etwas mehr Vertrauen in die Kraft des konstruktiven Geistes könnte nicht schaden, wenn es darum geht, den fatalen Diktatoren und Parolen der Gegenwart etwas entgegenzusetzen. Heute traut man der KI und der Technik alles Mögliche zu. Aber es ist immer noch der Mensch, der trotz aller seiner Fehler die Kreativität besitzt, falsche Pfade zu verlassen.