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Buchbesprechung

Den Fremden denken

8. März 2016
Stephan Wehowsky
Das neue Kursbuch widmet sich dem Thema der Fremdheit. Dahinter steckt die Migrationsproblematik.

Beim Kursbuch 185 mit dem Titel: "Fremd sein!“ drängt sich schon nach kurzer Lektüre eine Frage auf: Gibt es auch im Denken Übersprungshandlungen? Übersprungshandlungen sind bekanntlich Reaktionsweisen, auf die Lebewesen im Zeichen grosser Bedrohung verfallen. So kann eine Katze auf die Gegenwart eines übermächtigen Angreifers reagieren, indem sie anfängt, sich zu putzen. Machen Denker ähnliches?

Fremdheit allüberall

Europa im Zeichen der Migration: Das ist tatsächlich eine Bedrohung, auf die die schlichteren Gemüter mit Abwehrreflexen reagieren. Sie schliessen sich rechten Gruppen an, wählen rechtsradikale Parteien und brüllen Parolen, die emotional zu nennen noch sehr höflich ist. Was geschieht aber, wenn die Migration zum Thema anspruchsvoller intellektueller Auseinandersetzung wird? Hier zeigt sich im Sinne der Übersprungshandlungen ein eigentümliches Muster.

Das Fremde wird zum ubiquitären Phänomen. Die meisten Autoren des vorliegenden Bandes kommen wieder und wieder zu dem Schluss, dass Fremdsein eine Grundbedingung des Menschen und überhaupt jeder menschlichen Gesellschaft ist. Geradezu programmatisch widmet Armin Nassehi, neben Peter Felixberger Herausgeber des Kursbuchs, seinen Beitrag der Beobachtung, dass es unerträglich wäre, wenn jeder über jeden alles wüsste. Fremdheit ist die Bedingung für Kommunikation und überhaupt die meisten sozialen Interaktionen, die wiederum paradoxerweise Beiträge zur Überwindung der Fremdheit leisten sollen. Aber sie kann die Fremdheit nicht aufheben.

Nähe und Distanz

Auch Naika Foroutan plädiert dafür, Fremdheit in ihren vielfältigen Schattierungen nicht einfach überwinden zu wollen. Überhaupt erweist sich für sie, dass die Unterscheidung zwischen der eigenen Gruppe, des vertrauten Umgangs und dem Fremden immer auch eine soziale Konstruktion ist. Wir haben es sozusagen mit einem Labelling zu tun, das auf der einen Seite fabelhaft funktioniert, sich auf der anderen Seite in nichts als Fragezeichen auflöst, wenn man es in intellektueller Weise untersucht und befragt.

Auf dieser Spur bewegt sich auch der Psychoanalytiker und Psychotherapeut Wolfgang Schmidbauer. Er schildert die Herausforderung, vor der speziell Psychoanalytiker stehen. Denn auf der einen Seite kommen sie ihren Klienten in einer unüberbietbaren Weise nahe, auf der anderen Seite müssen sie gerade deswegen Distanz wahren. Bekanntlich gelingt das nicht immer, und der eine oder andere Psychoanalytiker verliert sich in einer Beziehung, die ihm seine Profession verbietet und die durchaus auch als Straftat geahndet werden kann. Diese Ausführungen sind hochinteressant, aber mit dem Thema der Herausforderung durch Migration sind sie eher locker verknüpft.

Der Schrecken

Am ehesten trifft Alfred Hackensberger das Thema. Er macht Bemerkungen „zur Motivation muslimischer Flüchtlinge“. Da er sich in diesem Umfeld wirklich auskennt, liefert er exakte Beschreibungen. So beschäftigt er sich mit dem Schicksal von Yannick N., einem der mutmasslich 790 Islamisten, die in den vergangenen Jahren nach Einschätzung des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) von Deutschland aus in den Dschihad ausgewandert sind. Hackensberger schildert, wie dieser randständige, sogar geistig leicht behinderte junge Mann im Islamismus Sinn und Halt gefunden hat und sich schliesslich mit 1.5 Tonnen Sprengstoff in einem LKW westlich der irakischen Stadt Baidschi in die Luft gesprengt hat.

Die Schilderungen von Hackensberger thematisieren genau jenen Schrecken, der mit der gesamten Migrationsproblematik verbunden ist. Über ihn kann man aber kaum sprechen, ohne in die Ecke der Ausländerfeindlichkeit oder des Ressentiments gestellt zu werden. Hackensberger aber beschreibt aufgrund genauer Kenntnis, nicht auf der Basis von Ressentiments. Im Kursbuch über Flüchtlinge hatte er seine Beobachtungen in Marrakesch geschildert und davon ausgehend klargemacht, wie irreführend unsere Vorstellungen von der Migration sind. Er hält unbequeme Wahrheiten bereit, aber er weist auch immer wieder auf die Schlüssel hin, mit deren Hilfe man sie aufschliessen könnte.

Reines Theoretisieren über Fremdheit oder geschichtliche Betrachtungen früherer Phänomene wie die sukzessive Besiedlung Amerikas durch Einwanderer bringen dagegen weniger. Sie wirken wie die Flucht des Denkens vor einer Realität, die schon jetzt in einigen Ausformungen „unausdenklich“ ist.

Armin Nassehi, Peter Felixberger (Hg.), Kursbuch 185, März 2016, Fremd sein!, 188 Seiten

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