Der Historiker und Schriftsteller Karsten Kampitz sieht in einer Reihe von Ereignissen des Jahres 1976 ein Menetekel des bevorstehenden Kollapses der DDR. Die Periode der fünf vorangehenden Jahre, beginnend mit dem Machtwechsel 1971 von Walter Ulbricht zu Erich Honecker, war von Widersprüchen gekennzeichnet. Der neue Mann an der Spitze strebte eine wirtschaftliche und soziale Modernisierung an. Zudem setzte er sich die Respektierung seines Landes auf dem internationalen Parkett zum Ziel. Doch unter der Vorgabe des absoluten Festhaltens an der Hegemonie der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands SED konnte es nicht anders kommen: Die auf dem Weg zu diesen Zielen zum Teil erreichten Erfolge standen auf schwankendem Grund und wurden umgehend zunichte gemacht.
Tauwetter der frühen 70er Jahre
Nach dem VIII. Parteitag, der den Machtwechsel gebracht hatte, gab es in der DDR etwas mehr individuellen Freiraum. Wer keine Karriere anstrebte, wurde – Wohlverhalten vorausgesetzt – politisch in Ruhe gelassen. Die Versorgung mit Konsumgütern verbesserte sich graduell im Rahmen der notorischen Mangelwirtschaft. Wie sich später erweisen sollte, war jedoch selbst dieser bescheidene Wohlstand auf Pump erkauft.
In der Kultur hingegen tat sich Sensationelles. 1973 wurde der Film «Die Legende von Paul und Paula» freigegeben (Regie: Heiner Carow, Buch: Ulrich Plenzdorf). Zwei Millionen Menschen sahen in der DDR die nicht dem sozialistischen Kanon folgende Geschichte mit den beiden Stars Angelika Domröse und Winfried Glatzeder. Ein Hauch von freier Liebe und freien Gedanken weckte Hoffnungen, wie sie fünf Jahre zuvor das tschechoslowakische Kino beflügelt hatten. Bisher verbotene Bücher waren auf einmal erhältlich, wenn auch in kleinen, jeweils nach zwei Tagen ausverkauften Auflagen: von Stefan Heym «Die Schmähschrift», «Der König David Bericht» und «Lassalle»; vor allem aber Reiner Kunzes Gedichtband «Brief mit blauem Siegel». In der Ostberliner Kulturszene wehte ein Geist, der an die 68er Bewegung gemahnte, es gab Veranstaltungsreihen wie «Rock und Lyrik», die Liedermacherin Bettina Wegner sang am Rand und ausserhalb des Genehmen.
Im Vergleich zu den Ulbricht-Jahren gab es weniger handfeste Repression. Statt zu jährlich 14'000 kam es noch zu 3'000 politisch begründeten Verhaftungen. Doch unterhalb der Schwelle des Justizeingriffs stieg der Druck bald wieder an. Versammlungen ausserhalb des Parteirahmens wurden unterbunden. Auch die Kirchen mussten jede Veranstaltung, die kein Gottesdienst war, vorgängig anmelden und bewilligen lassen. Kinder christlicher Eltern wurden im Bildungswesen vermehrt diskriminiert und drangsaliert.
Irreversible Schritte
Erst die Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte am 1. August 1975 in Helsinki gab den DDR-Bürgern Rechte, die sie zum Schutz gegen staatliche Willkür in Anspruch nehmen konnten. Die Unterschriften der Warschauer-Pakt-Staaten unter dieses Vertragswerk erwiesen sich in der Folge als irreversible Schritte in Richtung Anerkennung von Menschenrechten. «Helsinki» diente den Oppositionellen in mehreren Staaten zur Legitimation.
Im Vorfeld des IX. Parteitags veröffentlichte das Parteiorgan «Neues Deutschland» den Entwurf für ein neues SED-Parteiprogramm mit der Aufforderung, dieses breit zu diskutieren und dazu Stellung zu nehmen: «Es ist eine Aussprache über Parteidokumente zwischen den Genossen unserer Partei, und zugleich ist es eine Volksaussprache, ein Zwiegespräch der Partei mit dem ganzen Volk der DDR. Das wird ein zutiefst demokratischer Vorgang sein, bei dem alle Schichten der Bevölkerung, alle Bürger unseres sozialistischen Staates zu Worte kommen sollen.» (ND, 16./17. Januar 1976, Seite 1)
Der Apparat rechnete vermutlich mit den üblichen ritualisierten Grussadressen ausgewählter Parteigruppen und Prominenter. Doch es war die Evangelische Kirche, die diese Einladung zum demokratischen Dialog annahm. Sie kritisierte scharf, dass im neuen Programm die zuvor enthaltene Garantie der Religions- und Weltanschauungsfreiheit gestrichen war und verlangte eine Aussprache mit den Staats- und Parteiorganen. Die Kirchenleitung bekam diese auch, und sie erreichte sogar, dass die fehlenden Freiheitsgarantien wieder in den Entwurf aufgenommen wurden. Die KSZE-Schlussakte bewährte sich auch bei dieser heiklen Auseinandersetzung als Schutz der Menschenrechte.
Das Gespenst des Eurokommunismus
Ganze zwei Jahre hatte die Vorbereitung der «Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien» gedauert, die im Juni 1976 in Berlin abgehalten wurde. Die Spitzen der KPdSU und der SED setzten alles daran, manifesten Abweichungen seitens der kaum zu steuernden Konferenzteilnehmer von ausserhalb des Warschauer Pakts vorzubeugen. Solche Konferenzen dienten aus ihrer Sicht einzig der Bekräftigung zweier Mantras: erstens der Dämonisierung der Sozialdemokratie als «Sozialfaschismus», zweitens der Beschwörung unverbrüchlicher Freundschaft mit der Sowjetunion.
Das Unheil begann mit der ultimativen Forderung des jugoslawischen Parteichefs Tito, die Konferenz habe integral öffentlich zu sein. So kam es, dass 500 Journalisten aus aller Welt mit dabei waren und westdeutsche Rundfunkanstalten am 29. und 30. Juni 1976 live aus Ostberlin berichteten. Aus diesem Grund war auch das «Neue Deutschland» gezwungen, getreu seiner üblichen Hofberichterstattung die Reden des Kongresses wörtlich zu publizieren. Andernfalls hätte man sich dem Vorwurf ausgesetzt, ausländische kommunistische Granden zu zensurieren.
Die Befürchtungen waren nicht unbegründet. Santiago Carillo, Chef des im Franco-Spanien verbotenen Partido Communista, hielt in Anwesenheit Breschnews eine Rede, die explizit die Linie des vom Warschauer Pakt per Invasion beendeten Prager Frühlings vertrat. Redner aus Jugoslawien und Rumänien widersprachen der Breschnew-Doktrin von der beschränkten Souveränität sozialistischer Staaten. Diese hatte der russische Machthaber 1968 als Konsequenz der Niederschlagung der tschechoslowakischen Insubordination verkündet. Am tollsten aber trieb es auf der Konferenz der Italiener Enrico Berlinguer. Gestärkt mit einem heimischen Wahlerfolg von über 34 Prozent der Stimmen, der ihn fast an die Regierung gebracht hätte, plädierte er für einen Aufbau des Sozialismus bei voller Respektierung der als «bürgerlich» geltenden Freiheiten. Den Vogel schoss er ab mit seinem Bekenntnis zur Nato: Italien würde auch unter kommunistischer Regierung im Fall eines Ost-West-Konflikts klar zum westlichen Militärbündnis stehen.
Dieser primär von Carillo und Berlinguer verfochtene Eurokommunismus war Ausdruck des Dilemmas, in dem die in demokratischem Wettbewerb stehenden kommunistischen Parteien des Westens steckten. Mit linientreuen Programmen nach dem Gusto der Sowjets war in ihren Ländern kein Staat zu machen. Das merkten nach dem Tschechoslowakei-Debakel selbst die stramm stalinistischen Kommunisten Frankreichs. Eine gewisse Eigenständigkeit war für die westlichen KPs eine Existenzfrage. Dass der Eurokommunismus dann doch keine Zukunft hatte, lag einerseits an der nachhaltig tiefen Schockwirkung der Niederwalzung des Prager Frühlings, andererseits am Fehlen eines überzeugenden demokratisch-kommunistischen Projekts der westlichen KPs.
Brüsewitz und Biermann – gerade etwas zuviel
Am 18. August 1976 verbrannte sich in Zeitz der evangelische Pfarrer Oskar Brüsewitz; vier Tage danach erlag er seinen Verletzungen. Sein Suizid war ein politischer und kirchenkritischer Aufschrei – zumindest war er das auch. Die etwas verworrene Persönlichkeit dieses Pfarrers machte es schwer, ihn eindeutig in der Linie etwa der buddhistischen Mönche zu sehen, die sich aus Protest gegen den Vietnamkrieg verbrannt hatten. Dennoch bewegte sein Flammentod die Öffentlichkeit der DDR und weit darüber hinaus. Was sich dann aber das Parteiorgan «Neues Deutschland» am 31. August an Diffamierung und Verächtlichmachung des Verstorbenen in einem anonymen Kommentar leistete, das löste eine heftige Welle des Entsetzens aus, die angeblich sogar weit in SED-Kreise reichte.
Am 11. September antwortete die Konferenz der evangelischen Kirchenleitungen in der DDR mit einer Stellungnahme, die als republikweite Kanzelabkündigung natürlich auch in die Westmedien Eingang fand. Darin hiess es, die Spannungen und Zerreissproben der DDR-Gesellschaft müssten offen ausgetragen werden. Insbesondere müssten Kinder und Jugendliche aus christlichen Familien im staatlichen Bildungssystem «ungekränkt als Christen leben können». – Erich Honecker verstand diese Erklärung als «einen der grössten konterrevolutionären Akte gegen die DDR».
Am gleichen 11. September 1976 trat Wolf Biermann nach elfjährigem Berufsverbot erstmals wieder auf, und zwar in der vollbesetzten Nicolaikirche in Berlin-Prenzlau. Der Parteibann hatte ihn 1965 getroffen, nachdem sein Gedichtband «Die Drahtharfe» bei Wagenbach in Westberlin erschienen war. Nach dem (verbotenen) Auftritt in der Nicolaikirche wurde Biermann für eine Konzertreise in die Bundesrepublik eingeladen. Am 13. November 1976 sang und spielte er solo das legendäre Konzert vor 7'000 Menschen in Köln. Am 17. November wurde er aus der DDR ausgebürgert; das heisst, er durfte nicht aus dem Westen zurückkehren.
Ganz offensichtlich hatte die Staats- und Parteiführung die erwartbaren Wirkungen nicht richtig eingeschätzt. Die kaltschnäuzige Ausbürgerung Biermanns und die «Leichenschändung» des «Neuen Deutschland» an Brüsewitz brachten das Fass zum Überlaufen. Gegen die Biermann-Ausbürgerung protestierten prominente Berliner Künstlerinnen und Künstler mit einer scharfen Erklärung. Sie wurde in der Folge von über hundert Kulturschaffenden der DDR unterzeichnet – ein beispielloser Vorgang, der für die Kulturpolitik von Staat und Partei eine Katastrophe war.
Die Kirchenleitung sagte zum Fall Biermann öffentlich nichts. Sie tat etwas viel Wirkungsvolleres: Sie ermutigte die kirchliche Basis, Künstler in die Gemeinden einzuladen und Gespräche mit ihnen zu veranstalten – was denn auch in grossem Umfang geschah. Die Solidarisierung mit dem Ausgebürgerten und dann auch mit vielen weiteren kritischen Kulturschaffenden gab dem Fall Biermann erst die Durchschlagkraft, die der Apparat fürchtete.
Karsten Kampitz schildert diese und weitere Ereignisse des Jahres 1976 und ordnet sie historisch ein. Er kann glaubhaft machen, dass sie wesentlich dazu beigetragen haben, dass die DDR dreizehn Jahre danach in sich zusammenfiel. Jedenfalls kann man die 1976er Geschehnisse als Anzeichen einer beginnenden inneren Auflösung des Machtapparats deuten.
Karsten Krampitz: 1976. Die DDR in der Krise, Verbrecher Verlag, Berlin 2016, 175 Seiten, auch als E-Book erhältlich