Die Verwirrung scheint grenzenlos zu sein. Immer wieder begegnet uns die Verwendung des Ausdrucks «jüdischer Staat» in westlichen Regierungskreisen und in unserer Publizistik. Niemand scheint sich Gedanken darüber zu machen, dass eine solche faktische Anerkennung der Selbstbezeichnung Israels dessen Pläne zur Annexion «Judäas und Samarias» abstützt. Dazu genügt ein kurzer Blick in die Zeitgeschichte.
Ein Staat für jüdische Einwanderer
Auch wenn der UN-Teilungsplan vom November 1947 einen «jüdischen» und einen «arabischen Staat» für Palästina vorsah, war damit keine Schaffung zweier Gemeinwesen auf religiöser Grundlage gemeint. David Ben-Gurion, damals Vorsitzender der zionistischen Exekutive, hat wenige Tage später den Ausdruck «jüdisch» nur im Sinne der freien Einwanderung und Ansiedlung definiert; die Überlebenden der Shoah verlangten nach einem sicheren Hafen. «Jüdisch» konnte auch deshalb nicht in einem religiösen Sinne verstanden werden, weil in dem neuen Staat 46 Prozent zum arabisch-moslemisch-christlichen Bevölkerungsteil gehört hätten.
Aktuelle Verweise auf die Friedensverträge mit Ägypten 1978 und mit Jordanien 1995, in denen von einem jüdischen Staat nicht die Rede ist, geben wenig her. In beiden Fällen ging es den Regierungschefs Menachem Begin und Yitzhak Rabin nicht um Verzichtsleistungen auf Teile des als heilig bezeichneten «Landes Israel», so auf das theologische Niemandsland, die Sinai-Halbinsel – und auch nicht auf «Judäa und Samaria». Denn die Ankündigung König Husseins vom Juli 1988, auf die Souveränität über die Westbank zugunsten der PLO zu verzichten, spielte dem israelischen Territorialanspruch geradewegs in die Hände. Schliesslich war die PLO seit dem UN-Beschluss von 1974 nur ein partielles Völkerrechtssubjekt – woran sich durch den Status als «Non-Member-State» von 2012 wenig geändert hat.
Folgerichtig finden, was Deutschland angeht, keine Regierungskonsultationen mit «Palästina» statt, sondern es gibt einen Lenkungsausschuss, dessen Abschlusserklärung nach der dritten Runde am 19. März über die «Vision» des «Aufbau(s) eines unabhängigen, demokratischen, zusammenhängenden, souveränen Staates Palästina, der Seite an Seite in Frieden, Sicherheit und gegenseitiger Anerkennung mit allen seinen Nachbarn einschliesslich Israel lebt», nicht hinauskommt.
«Kriegserklärung an der Schöpfer»
Gegenüber der Herausforderung, die Israels Reden vom jüdischen Staat darstellt, fiel John Kerrys knappe Distanzierung vor dem Aussenpolitischen Ausschuss des US-Repräsentantenhauses ausgesprochen diplomatisch aus – «ein Fehler» –, obwohl ihn Alan Baker vom «Jerusalem Center for Public Affairs» unter Leitung des Netanjahu-Vertrauten Dore Gold vorher zurechtgewiesen hatte, dass es eine Entität «Palästina» nicht gäbe, und sich ein «Komitee zur Rettung des Landes und des Volkes Israel» in einem Offenen Brief gegen Kerrys Pendelmission durch die Anrufung Gottes verwahrte: «Ihre unermüdlichen Anstrengungen, uns integraler Teile unseres Heiligen Landes zu berauben und sie der Terroristenbande von Abbas auszuhändigen, kommt einer Kriegserklärung an den Schöpfer und Herrscher des Universums gleich!»
Zur selben Zeit lud Wirtschaftsminister Naftali Bennett («Das Jüdische Haus») Machmud Abbas zum Kaffee ein, damit dieser endlich begreife, dass «das unser Land» ist, und Transportminister Israel Katz («Likud») kündigte die Bereitstellung von 57 Millionen US-Dollar für den Ausbau der Siedlerstrassen in der Westbank an. Auch das vor wenigen Tagen durchgesickerte Rechtsgutachten des Jerusalemer Auswärtigen Amtes, das «Kleine Dreieck» zwischen den israelischen Städten Hadera und Afula samt seiner arabischen Bevölkerung in einen künftigen Staat Palästina abzuschieben, lässt sich nicht als Angebot eines pragmatischen Gebietsaustausches auf der Basis 1:1 verstehen. Wenn es um den Anschluss der Zone C mit über 60 Prozent der Westbank und die dauerhafte Militärpräsenz im Jordantal mit 2’400 Quadratkilometern geht, ist dort für die 300’000 Bewohner des «Kleinen Dreiecks» kein Platz.
Keine Perspektive ohne Friedensprozess
In ihrem neuen Buch «Parting Ways» hat die amerikanische Publizistin Judith Butler im Blick auf die israelische Politik bemerkt: «Der politische Punkt ist der, dass man das jüdische Volk nicht gegen die Zerstörung verteidigen kann, ohne das palästinensische Volk gegen die Zerstörung zu verteidigen.» Und vier Jahrzehnte früher konstatierte der Generalsekretärs der Arbeitspartei Arie L. Eliav trocken: «Unsere Beziehungen zu den palästinensischen Arabern stellen das wichtigste Element unserer Beziehungen zur arabischen Welt insgesamt dar.»
Der Status quo des Verhältnisses zwischen Besetzten und Besatzern ist auf Dauer nicht zu halten. Für den endgültigen Zusammenbruch aller friedenspolitischen Optionen bedarf es schon nicht mehr der Hardliner auf beiden Seiten. Ägypten, Syrien, Libanon und Jordanien sollten die israelische Politik zur Vernunft mahnen. Doch davon ist bislang weit und breit nichts zu sehen, im Gegenteil.