Schiller hatte die mechanisierte Welt in formvollendeter Lyrik als „entgötterte Natur“ beklagt. Weitaus prosaischer klang das bei Max Weber im frühen 20. Jahrhundert: „Entzauberung der Welt“. Ein kulturgeschichtlicher Gassenhauer. In seiner berühmten Rede über Wissenschaft als Beruf (1917, publiziert 1919) sagte der Soziologe: „Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet (...) das Wissen davon oder den Glauben daran: dass man, wenn man nur wollte (...) alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt. Nicht mehr, wie der Wilde, für den es solche Mächte gab, muss man zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten. Sondern technische Mittel und Berechnung leisten das.“
Die Welträtsel sind nicht gelöst
Man muss Webers Diagnose sorgfältig lesen. Er spricht vom „Wissen“ und vom „Glauben“ einer rational-rechnerischen Welterklärung und -beherrschung. Das sind zwei völlig verschiedene erkenntistheoretische Grundeinstellungen. So bringt der „Glaube“ einen naturwissenschaftlich-technischen Optimismus zum Ausdruck, der für seine Zeit typisch gewesen sein mochte, und der im populärphilosophischen Bestseller „Die Welträtsel“ (1899) von Ernst Häckel wohl seinen dreistesten Höhepunkt fand. Darin erklärte der Autor, die Geheimnisse der Welt in seinem materialistischen Monismus aufgelöst zu haben.
Aber die Entwicklung der Physik und Mathematik zu der Zeit, als Weber seinen Vortrag hielt, musste buchstäblich wie ein Tiefschlag gegen die Häckelsche Zuversicht erscheinen. Im „Wissen“ um die rational-rechnerische Welterklärung meldete sich ein tiefer Skeptizismus an. Einstein revidierte die klassische Physik Newtons von Grund auf; die neue Quantenphysik konnte zwar viele Phänomene des Atoms erklären, aber man verstand ihre „Sprunghaftigkeit“ nicht. Selbst die Fundamente der Mathematik, dieser Grundlage der rechnenden Rationalität, fand man von Paradoxien mürbe gemacht, und ihre „ewigen“ Sätze mussten sich der Frage stellen, wie sie sich denn überhaupt rechtfertigen lassen.
Naturwissenschaft und Geheimnis
Moderne Naturwissenschaft kennt das Geheimnis ja durchaus, primär in Gestalt vulgären Werbezaubers. Nichts wird medial gieriger ausgeschlachtet als die „Mysterien“ des Kosmos, des Lebens, der Quantenwelt. Dann ist aber auch die „Esoterik", die eingeschränkte Zugänglichkeit heutiger Grundlagenforschung nachgerade sprichwörtlich. Die Fachleute rümpfen zwar meist die Nase, wenn man ihre Arbeit so etikettiert. Ihr Ethos legt grössten Wert auf den öffentlichen, allgemein zugänglichen, d.h. exoterischen Charakter wissenschaftlichen Wissens.
Aber das ist eine Sicht auf das Erdgeschoss und die oberen Stockwerke der Naturwissenschaft. Im Souterrain lebt das Geheimis trotz Entzauberung weiter. Es gibt so etwas wie eine „Subgeschichte“ zur Siegergeschichte der naturwissenschaftlichen Rationalität.
Isaac Newton, der grosse Begründer des klassischen physikalischen Weltbildes, kann hier als Beispiel dienen. Er verfasste ein paar Jahre nach seinem epochalen Werk „Principia mathematica“ (1687) mit seltsamer philologischer Akribie eine Schrift, die man einem „modernen“ Physiker nicht unbedingt zugetraut hätte: „Über den Ursprung der Religion und ihren Verfall“. Newton war überzeugt, dass die Alten mehr wussten als seine Zeitgenossen. Er suchte deshalb in den Sedimenten früherer Epochen – primär in biblischen und anderen Quellen – geradezu obsessiv nach Indizien dieses Wissens. Vor allem aber betrachtete er sein eigenes Werk nicht als „Überwindung“ des alten Wissens, sondern quasi als dessen Vollendung. Wie konnte der Architekt des modernen wissenschaftlichen Weltgebäudes derart vormodernen Ideen anhängen?
Ganz einfach: Weil eine solche Haltung nicht vormodern ist. Newton war sich ganz einfach bewusst, dass das neue Weltgebäude, das er entworfen hatte, Fragen aufwarf, die sich darin nicht beantworten lassen. Im Besonderen die Frage, was es nun eigentlich mit dieser mysteriösen Fernwirkung der Gravitation auf sich habe. Sie sollte erst von Einstein beantwortet werden, und heute beginen die Physiker daran zu zweifeln, ob Einsteins Antwort der Weisheit letzter Schluss sei.
Bekanntes und unbekanntes Unbekanntes
Es gibt die Kategorie des „unbekannten Unbekannten“. Sie betrifft das Wesen wissenschaftlichen Fragens. Dieses Fragen erfolgt nicht, wie das philosophische, aus dem Staunen heraus, sondern aus einer besonderen Voreingenommenheit. Es braucht – wie dies der Wissenschaftshistoriker Thomas Kuhn nannte – eine „disziplinäre Matrix“ aus Konzepten, Theorien, Methoden, Instrumenten. Diese Matrix definiert das Fragwürdige und gibt die Antwortrichtung vor. Sie visiert – so könnte man sagen – ein bekanntes Unbekanntes an. Der Rahmen ist bekannt, das Unbekannte ist darin zu finden.
Zum Beispiel: Woraus besteht dunkle Materie? Welche Hirnvorgänge liegen dem Bewusstsein zugrunde? Kann man einem Roboter Schmerzfähigkeit einbauen? Solche Fragen hält man „im Prinzip“ für beantwortbar, indem man sie ins einschlägige Idiom der Physik, Biologie bzw. Neurowissenschaften – mit mehr oder weniger diskutablen Definitionen – übersetzt. Sie sind, wie in der klassischen Detektivgeschichte, Fälle, die lösbar (wenn auch nicht immer gelöst) sind. „Kennen Sie die Grundhypothese aller Wissenschaft?“ fragt Paul Valérys Monsieur Teste: „Sie lautet: Die Welt ist nahezu unbekannt.“
Daneben aber gibt es andere Fragen. Sie stellen sich, wenn wir scheitern; wenn wir mit den bisherigen Mitteln des Erklärens nicht mehr weiter kommen. Wie sieht die Phyik in den kleinsten Dimensionen – unterhalb der Plancklänge – aus? Wir haben keine Ahnung. Wir wissen nicht einmal, wie wir fragen sollen. Wir fühlen Schmerzen, wir sehen Farben, wir hören Vögel, wir machen die Erfahrung, ein Ich zu sein, das all dies wahrnimmt; wir wissen immer mehr, was sich auf neuronaler Ebene abspielt, aber wir wissen nicht, wie Bewusstsein aus diesem neuronalen Geschehen entsteht. Auch hier: Stellen wir überhaupt die richtige Frage? Wir stehen hier nicht an der Grenze des Antwortens, sondern des Fragens.
Das Geheimnis wächst mit der Erklärungshöhe
Das Geheimnis ist in seiner ungestellten, massiven Gegebenheit da, es steht in unserem Leben wie ein Berg. Die Wissenschaften besteigen ihn, aber der Berg wächst mit der Erklärungshöhe. Es gehört zum vulgäraufklärerischen Missverständnis, dass der Fortschritt der Wissenschaften zusehends das Geheimnis abschaffe. Die Romantik hat bekanntlich das Missverständnis zu korrigieren versucht. Aber es geht nicht um eine „Romantisierung“ der Wissenschaft, sondern um die Einsicht, dass die Naturwissenschaft des Geheimnisses bedarf. Nicht im Sinn der Detektivgeschichte, an deren Ende der Fall gelöst ist und wir den Durchblick haben; sondern im Sinn eines Bewusstseins der Vorläufigkeit: Selbst wenn wir den Fall gelöst haben, liegen die eigentlichen Fragen noch vor uns.
Der nahezu in Vergessenheit geratene, kurzzeitig an der ETH lehrende österreichische Physiker und Philosoph Franz Kröner vertrat in seinem Hauptwerk „Die Anarchie der philosophischen Systeme“ die These, dass jedes Denksystem, wie vollständig auch sein Erklärungsanspruch sei, notwendig einen „Rest“ an neuen Problemen aufwerfe, die es selber nicht beantworten könne. Die These wäre gerade heutzutage wieder zu bedenken, da andauernd von „ultimativen Theorien“ des Universums oder des Geistes die Rede ist und wissenschaftliche „Aufklärer“ sich medienwirksam in die prahlerische Pose werfen, die „letzten Rätsel“ gelöst zu haben.
Souveräne Unwissenheit
Man muss das Geheimnis – entgegen dem aufklärerischen Impetus – nicht als Symptom der Ignoranz, sondern im Gegenteil: des höchsten Wissensstandes betrachten. Als souveräne Unwissenheit. Das bekunden ausgerechnet Wissenschafter mit dem tiefsten Durchblick.
John Barrow, ein führender Astrophysiker unserer Zeit, sagte zum Beispiel über die Naturkonstanten, dass sie zugleich unser grösstes Wissen und unsere grösste Ratlosigkeit spiegeln. Einstein betonte immer wieder, welch unverständliches Wunder die Verständlichkeit der Welt sei. Ein anderer grosser Physiker des letzten Jahrhunderts, Eugene Wigner, publizierte 1960 einen Artikel mit dem Titel „Die unerklärliche Leistungsfähigkeit der Mathematik in den Naturwissenschaften“. Wigner spricht davon, dass die Sprache der Mathematik eine wundervolle Gabe sei, die wir weder verstehen noch verdienen würden. Wir sollten dankbar sein für sie und hoffen, dass sie ein hilfreiches und gültiges Instrument bleibe.
Der Mensch versteht eines der sublimsten Werkzeuge, mit dem er die Welt versteht, eigentlich nicht. Könnte dies ein Merkmal entwickelter Intelligenz sein: sich selber bis zu einem gewissen Grad intransparent zu bleiben?
Der wahre Rationalist
Man sollte dies nicht als Erkenntnispessimismus, nicht als Wissenschaftsverweigerung interpretieren. Wir leben nun einmal im Horizont unserer kognitiven Vermögen, sie definieren unsere Conditio humana. Diese Vermögen ermöglichen und begrenzen gleichzeitig unser Verständnis. Aber sowohl Vermögen wie Horizont sind dynamisch, erweiterbar.
Aristoteles argumentierte, dass, wenn sich die Erde bewegen würde, wir doch Verschiebungen in den relativen Positionen der Sterne beobachteten. Das ist ein gutes Argument, in der „Matrix“ der Alltagserfahrung wohlgemerkt. Es berücksichtigt nur nicht, dass diese Matrix zu eng für Sterne ist.
Wir sind inzwischen in atemberaubende Dimensionen vorgedrungen. Aber wer weiss, ob künftige Generationen nicht ebenfalls über unseren engen Horizont lächeln werden. Man kann es auch so formulieren: Das Unbekannte, das sind die (noch) nicht beantworteten, das Geheimnis, das sind die (noch) nicht gestellten Fragen. Wer das in Erinnerung behält, entwickelt ein Sensorium für das Mysteriöse. Man hüte sich, ihn einen Obskurantisten zu nennen. Er ist der wahre Rationalist.