„Kopf: ich gewinne, Zahl: du verlierst!“ Diesen Satz, den man am besten zweimal liest, hat der demokratische Politiker Andrew Cuomo, New York, in einem Bericht über die Banker geprägt. Die Kaste der Manager und die Ausbeutung der Arbeitnehmenden im 21. Jahrhundert waren sein Thema. In „revolutionären“ Umbruchszeiten wie heute ist es höchste Zeit, das westliche kapitalistische System etwas zu durchleuchten.
Politischer Vulkanausbruch
Das System ist ziemlich krank. Gemeint ist erstens unser Wirtschaftssystem, das schweizerische, das europäische, das amerikanische. Erschreckt durch Brexit und Trump realisieren auch weniger an Wirtschaft oder Politik interessierte Kreise der westlichen Bevölkerung, dass es wohl im gesellschaftlichen Vulkankrater nach jahrelangem Brodeln und Dampfen zur Eruption glühender Lava gekommen ist. Das „nicht voraussehbar“ als Entschuldigung der Verantwortlichen gilt allerdings nicht mehr.
Das Debakel zeichnet sich seit längerem ab. Die Unzufriedenheit grosser Teile der Bevölkerung und deren Reaktion, Druck abzulassen – wie in Grossbritannien oder den USA im letzten Jahr – hat Schlafwandler und Ignoranten kalt erwischt. Der giftige Cocktail aus Folgen der Immobilien- und Finanzkrise seit 2007 und der Angst vieler Menschen vor den Folgen von Globalisierung und technologischer Revolution hat dazu beigetragen, dass die Integritätskrise des Systems sichtbar wurde. So kann es nicht weitergehen.
Aus den Segnungen herausgefallen
Das erste Kapitel des seit bald 150 Jahren Verwirrung stiftenden Werks des Philosophen, Ökonomen und Gesellschaftskritikers Karl Marx beginnt mit dem Satz: „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ungeheure Warensammlung.“
Es geht hier nicht um eine verklärte Rückschau auf Klassenkampf und Ideologien. Doch wollen wir der Frage nachgehen, ob die von Marx vorausgesehenen Probleme des Kapitalismus und der wachsenden Ungleichheit – mit etwas Verspätung und aus anderen Gründen – zu einer Revolution führen könnten.
Entgegen Marx‘ Vorhersagen haben der Kapitalismus und die Globalisierung in den letzten 150 Jahren eine runde Milliarde Menschen aus der Armut befreit. Das ist beachtlich und wird oft vergessen. Gleichzeitig aber werden jetzt Nachteile dieses Wirtschaftssystems erkannt: In den entwickelten Industrienationen (z. B. USA und Grossbritannien) sind von der Mittelklasse der arbeitenden Menschen viele aus den Segnungen dieses Trends hinausgefallen. Allein in den USA sind es 25 Millionen, vornehmlich aus der weissen Mittelschicht.
Krachender Kollaps
Ist die von Karl Marx erhoffte Revolution – allerdings glücklicherweise nicht im Sinne des Erfinders – im Anzug? Sie manifestiert sich vorerst durch die Stimme des Volkes: Lange vergessene Arbeiter wandten sich per Abstimmung oder Wahl gegen die mächtigen Eliten. Diese wurden auf dem falschen Fuss erwischt. Was sind denn Brexit oder „Trexit“ anderes als Vorboten einer Revolution? Da melden sich Menschen gegen „die da oben“ und die abgehobene Politikerkaste, „denen sie ihre ganze Verachtung vor die Füsse werfen“ (Die Zeit). Früher nannte man das Klassenkampf: Proletariat gegen Bourgeoisie.
Bevor wir über diese Frustrierten urteilen, sollten wir versuchen, sich in ihre Situation zu versetzen. Ihre Arbeitsplätze wurden ins Ausland ausgelagert. Oder Roboter haben zusehends ihre Arbeit übernommen und verrichten diese zu einem Fünftel der einstigen Lohnkosten. Die Hypotheken auf ihrem Haus wurden gekündigt. Wer nicht zahlen konnte, stand draussen. Und dann kommen die Heilsbringer, die ihnen Erlösung aus der Misere versprechen.
Beispiel? Steve Bannon, Trumps Chefstratege, wörtlich gemäss „NZZ am Sonntag“ einem Interview mit „Daily Beast“ 2013: „Ich will das ganze System zu einem krachenden Kollaps bringen und das gesamte heutige Establishment zerstören.“
Solche Rezepte werden sich als untauglich erweisen. Selbst Marx, dessen theoretische und spekulative Ideen scheiterten, würde darüber lächeln. Strafzölle, gekündigte Handelsabkommen, Austritt aus Friedensprojekten, hochgezogene Grenzmauern gegen „Feinde“ – solche Verheissungen der Ideologen sind nicht nur falsch, sondern gefährlich.
Spaltung der Gesellschaft
Auch über die Rolle der Manager äusserte sich Marx. Allerdings nannte er sie „Dirigenten“; er unterschied damit klar zwischen Eigentümern von Unternehmen und deren Repräsentanten, die er „Zwitterwesen“ zwischen Kapitalist und Proletariat nannte. Realisieren wir eigentlich, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts die exorbitanten Managergehälter die Eigentümer dieser Firmen – über Aktien auch Lebensversicherungen, Pensionskassen und kleine Investoren – Abermillionen kosten?
Die Kaste pflegt sich zu verteidigen, dagegen sei nichts einzuwenden, oder, noch eine Stufe phantasieloser, der Markt verlange das (15 Vorstandschefs der grössten deutschen Konzerne verdienen durchschnittlich 6,1 Millionen Euro jährlich). Werden Spitzenmanager wegen schlechter Performance entlassen, kassieren sie skandalöse Abfindungsbeträge, die das Zwanzigfache eines Jahreseinkommens einfacher Arbeiter weit übersteigen können.
„Boni ohne Leistung“, betitelte „Die Zeit“ 2016 einen viel beachteten Beitrag: „Die marktgerechte Entlöhnung von Topmanagern ist ein Mythos, der ihnen nutzt – und der Demokratie schadet.“ Das abgezweigte Geld ist ja nicht die ganze Misere, die hier angerichtet wird. Viel gravierender sind die Langzeitfolgen in den Gesellschaften. Wie das Beispiel USA zeigt, hat die Spaltung der Gesellschaft unerhörte Dimensionen angenommen und sich jetzt Luft gemacht.
Offensichtlich scheint das die kritisierten Manager nicht weiter zu stören. Wie sollte es auch, sie sind ja untereinander bestens vernetzt. Ignoriert werden die Nebenwirkungen dieser „Krankheit“: Aus den lokalen gesellschaftlichen Brandherden USA und Grossbritannien könnten sich globale Flächenbrände entwickeln, deren Schadensummen explodieren und auch die Grundlagen der als krisenresistent beurteilten Branchen und deren Manager mit ihrer „ungeheuren Warensammlung“ selbst gefährden könnten. Auch die Schweiz wäre davon direkt betroffen.
Kontraproduktive Geldpolitik
2008 lag die globale Geldpolitik im Argen, nicht wenige Grossbanken (auch UBS und CS) lagen bei den Zentralbanken auf der Intensivstation. Diese operierten rechtzeitig und retteten den angeschlagenen Instituten das Leben. Nachhaltig war dies allerdings nicht. Wir nennen die von Marx verwendete makroökonomische Theorie der Krisen heute anders, „säkulare Stagnation“ tönt besser.
Doch inzwischen werden die anhaltenden Interventionen der amerikanischen (Fed) und europäischen Zentralbanken (EZB) selbst zur Ursache neuer Verwerfungen. Während sich in den USA infolge steigender Inflation und Beschäftigungsraten eine Besserung abzeichnet, verharrt die EZB in Deckung. Sie vernebelt die wahren Gründe ihrer Tief- resp. Negativzinspolitik, unter denen weit herum Sparer und Institutionen leiden. Vordergründig soll damit die Investitionslust von Staaten und Wirtschaften angekurbelt werden. Nur hinter vorgehaltener Hand wird zugegeben, dass damit die Rettung überschuldeter Firmen und Staaten in Südeuropa angestrebt wird.
Politische Führung gefragt
Jetzt zum zweiten Teil unseres Systems. Das Wirtschaftssystem ist offensichtlich allein nicht in der Lage, eine Wende zum Besseren zu schaffen. Es braucht jetzt politische Kräfte, die nicht nur verwalten, sondern Führungsqualitäten entwickeln. Fachleute fordern „inklusives Wachstum“ anstelle des ihrer Meinung nach ungenügenden Wirtschaftswachstums. Gemeint ist damit im Jargon der OECD: „Inklusives Wachstum ist ein ökonomisches Wachstum, das für alle Teile der Bevölkerung Möglichkeiten schafft und das die Früchte des erarbeiteten Wohlstands, in geldlicher wie in nicht-geldlicher Form, fair in der Gesellschaft verteilt.“
Diese Forderung ist weder neu noch wird sie allein weiterhelfen. Natürlich sorgt das anhaltende Bevölkerungswachstum an sich für Wachstum. Es braucht daneben aber Investitionen in die „nachhaltige Produktivität“: Ausbildung, Weiterbildung, Infrastrukturoptimierung, flexiblere Arbeitsmärkte, sinnvolle Regulierungen, Rechtsstaatlichkeit und offene, faire Märkte.
Das Abstimmungsresultat vom 12. Februar 2017 über die Unternehmenssteuerreform III ist ein Fingerzeig für die Politik. „Das Volk“ war klüger als viele politische Entscheidungsträger. Die Reaktionen desavouierter Befürworter sind entlarvend: Bundesrat Ueli Maurer: „Das Volk war überfordert.“ Der Zürcher Regierungsrat Ernst Stocker auf die Frage, ob er etwas falsch gemacht habe: „Nein.“
Gewerbeverbandsdirektor Hans-Ulrich Bigler auf Vorschläge zur Streichung von Aktionärsprivilegien: „Solche dürfen kein Thema sein.“ Und FDP-Chefin Petra Gössi: „Unsere Basis steht hinter der Vorlage.“ Sturheit, Unbelehrbarkeit und Unverständnis zeigen, dass die Situation, der Weckruf, immer noch nicht verstanden wird. Kompromissfähigkeit und Lösungsorientierung sehen anders aus.
Unser System ist das grossartige Resultat der Vorgenerationen: Rechtsstaat mit Gewaltentrennung und demokratischer Kontrolle sowie politische Kompromissfähigkeit bilden das Fundament unseres Lebensverständnisses. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Gegner dieses Systems nicht nur in den USA und Grossbritannien, sondern auch anderswo versuchen, den Gesellschaftsraum mit egoistischen oder ideologischen Eigeninteressen zu vereinnahmen. Doch „das Volk“ ist argwöhnisch geworden und aufgewacht. Es beginnt sich gegen solche Trends zur Wehr zu setzen. Es hat erkannt: etwas stimmt nicht mehr mit unserem System.