Selbst wenn dieser alles durchdringende kalte Regen nicht über das flache Land fegte, würde der Anblick der zwei knienden Gestalten frösteln machen. Grau alle beide. Der Mann hat die Schultern hochgezogen, die Arme eng um den Oberkörper geschlungen. Als ob er nur noch auf diese Weise wenigstens irgendwie Haltung bewahren könnte. Das Gesicht: eingefallene Wangen, verschlossene Lippen, die Mundwinkel verbittert nach unten gezogen. Aber der Rücken ist kerzengerade aufrecht. Und erhoben, Würde ausstrahlend, genauso das Haupt. Der leicht zum Boden gerichtete Blick konzentriert sich auf nichts Spezielles; er scheint sich im Unendlichen zu verlieren.
Sehr ähnlich, und dennoch wieder ganz anders, die Frau. Auch ihre Hände verkrampfen sich, Halt suchend, im Stoff des Mantels. Die linke Kragenseite ist schützend ans Gesicht gezogen. Nein, dieser Mensch will nicht einmal mehr auch nur den Schein von Stärke vorgeben. Er ist nur noch verzweifelt. Ein tiefer Schmerz zwingt den Rücken in die Beuge. Die Augen sind geschlossen, als wollten sie diese Welt nicht mehr sehen.
Ein Bild unendlicher Trauer
Die zwei sind ein einziges Bild unendlicher Trauer, ein trauerndes Elternpaar. Käthe Kollwitz, die grosse Zeichnerin vor allem der kleinen, geknechteten, im Schatten des Lebens stehenden Menschen, hat es geschaffen und ihm zugleich auch diesen Namen gegeben. Ein Denkmal auf dem deutschen Soldatenfriedhof aus dem Ersten Weltkrieg am Rande des kleinen westflandrischen Dorfes Vladslo, einen Steinwurf von den beiden malerischen belgischen Städtchen Diksmuide und Ypern entfernt. Beide waren vor hundert Jahren Symbole der Kriegshölle.
Der stille Platz im Praatswald – hier stehen die «trauernden Eltern». Vor allem Belgier zieht es dorthin, aber auch Scharen von Briten. Deutsche weniger, seltsamerweise. Immer wieder bleibt der Blick an kleinen Holzkreuzen mit der papiernen Mohnblume hängen, wie sie die Engländer auf den Gräbern ihrer Gefallenen niederlegen. «We shall remember», steht darauf zu lesen – «wir erinnern uns».
Dort, wo sich im Herbst 1914 der deutsche Vormarsch im künstlich überfluteten Gelände festgelaufen hatte, wo am Yser-Kanal in den folgenden vier Jahren hunderttausende Deutsche, Briten, Franzosen, Belgier, Australier und andere im Kanonen- und Nahkampfinferno der Westfront gefallen, gestorben, krepiert sind. Die Künstlerin Kollwitz, die Mutter Kollwitz vor allem, hat das Mahnmal entworfen in Erinnerung an den Sohn Peter, Angehöriger jener zum übersteigerten Patriotismus herangezogenen Jugend, die mit dem Deutschlandlied auf den Lippen in die MG-Garben gelaufen ist bei Langemarck, Ypern, Diksmuide, Nieuwport und wie die zu Synonymen des Grauens gewordenen Orte alle heissen.
Freiwillig gemeldet
Peter Kollwitz hatte sich freiwillig gemeldet. Sein Tod kam schon wenige Wochen nach Kriegsbeginn. Am 23. Oktober 1914 ist er (der «Musketier», wie es auf einer Grabplatte zu Füssen der steinernen Eltern geschrieben steht) bei einem Sturmangriff auf Diksmuide gefallen. Knapp 18 Jahre erst alt.
Vielleicht war es sogar die Attacke, über die ein Kommandant des 11. Belgischen Linienregiments in der Nacht vom 23. auf den 24. Oktober in seinem Tagebuch festhielt: «Er (der Feind) hat zahllose frische Truppen vor der Stadt zusammengezogen und den Befehl gegeben, koste es was es wolle, die Stellung zu nehmen. Kaum zurückgeschlagen, gruppieren sie sich erneut zum Angriff, und das mit immer grösser werdender Stosskraft. Was hat man diesen Männern versprochen, dass sie sich so töten lassen?... Sie erreichen die Laufgräben nur, um hier den Tod zu finden.» Der deutsche Heeresbericht verzeichnete an diesem Tag lediglich «unerwarteten Widerstand, der uns jedoch nicht aufhalten wird».
Ausweislich ihrer eigenen Notizen hatte Käthe Kollwitz bereits am 1. Dezember 1914 den Plan gefasst, ein Denkmal zu schaffen. Ihrem Sohn Peter zu Ehren, aber auch all den anderen ins Verderben geschickten Männern, von denen aus Deutschland 134’000 in Flandern beerdigt sind; allein 25’644 unter den mit jeweils bis zu zwanzig Namen versehenen schwarzen Granittafeln in Vladslo. Freilich sollten bis zum letzten Hammerschlag an den beiden steinernen Gestalten noch 18 Jahre vergehen. Ein genauso langer Zeitraum also, wie zuvor das Leben des Sohnes währte.
Einfluss von Ernst Barlach
«Hier liegt die Jugend», wollte die Skulpteurin zunächst in Granit meisseln. Dann verwarf sie die Idee wieder. Zeitweise sogar schien ihr, die doch mit Kohle und Stift so unnachahmlich Schrecken und Mitleid auf Papier zu bannen verstand, mit den Plastiken überhaupt nichts zu gelingen. Bis schliesslich (beeinflusst durch Ernst Barlach) der Gedanke reifte, den «Trauernden») einfach ihre und ihres Mannes Züge zu geben – also die von Käthe und Karl Kollwitz.
Am 24. Juni 1932 endlich wurden die zwei lebensgrossen Granitgestalten aufgestellt – noch nicht in Vladslo, sondern auf dem kleinen, einsam in den weiten Feldern der Yser-Landschaft gelegenen und 1965 aufgelösten Soldatenfriedhof Roggeveld. Das Echo war seinerzeit keineswegs durchgehend freundlich. Noch immer unter dem Eindruck der vier fürchterlichen Kriegsjahre stehend, mochten nicht wenige Belgier in den «trauernden Eltern» nicht die gebrochene Mutter und den zerstörten Vater erblicken, sondern vielmehr in den Stein gehauene Feind und die Feindin. Als «Mette» und «Pette», «Manten» und «Kalle» wurden die Statuen verspottet.
Und daheim in Deutschland? Dass das NSDAP-Organ «Völkischer Beobachter» der von Gram gebeugten Frauenfigur nachsagte, so sehe «eine deutsche Mutter hier Gott sei Dank nicht aus», erstaunt nicht. Aber es waren eben nicht nur die Nazis, denen der fehlende Heroismus missfiel. Der (noch heute) über dem Tor zum grössten deutschen Soldatenfriedhof in Langemarck ,Belgien, prangende Satz des Dichters Heinrich Lersch «Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen» – er passte besser zu einem Zeitgeist, der nur sieben Jahre später einen neuen, noch schrecklicheren Krieg gebar.
Zu Füssen der Eltern
Inzwischen ist die ruhige Stätte unter den Eichen des Praatswaldes bei Vladslo wohl gerade wegen der Kollwitz-Figuren ein viel besuchter Ort. Schier endlos scheinen die Reihen der Grabplatten und Kreuze, die zu den «Trauernden» führen. Peter Kollwitz liegt genau zu Füssen seiner versteinerten Eltern.
Mitten in der Kölner Altstadt, angedockt an den ehrwürdigen Gürzenich und flankiert vom berühmten Wallraf-Richartz-Museum, befindet sich die Ruine von Alt St. Alban. Die im Krieg zerstörte frühgotische Kirche wurde bewusst nicht wieder aufgebaut, sondern – sozusagen ein steinernes Skelett – als Mahnmal gegen Gewalt im Allgemeinen und zum Gedenken an die Toten der beiden Weltkriege belassen. 34 Jahre lang – vom Mai 1959 bis zum Volkstrauertag im November 1993 – fungierte Alt St. Alban als «Bundesehrenmal».
Warum die Erwähnung im Zusammenhang mit Käthe Kollwitz´ «Trauernden Eltern» im westlichen Flandern? Weil an dieser Stelle in Köln auf Wunsch des älteren Kollwitz-Sohnes Hans Kopien der Originale aufgestellt wurden. Nicht aus Granit, sondern aus Muschelkalk. Und ausgeführt von einem ehemaligen Meisterschüler der Düsseldorfer Kunstakademie namens – Josef Beuys.
Weltgrösste Kollwitz-Sammlung
Und wiederum nur einen Steinwurf von hier entfernt, im Gebäude der Kreissparkasse am Kölner Neumarkt , ist die weltgrösste Sammlung von Werken der Kollwitz zu besichtigen. Klar, die meisten sind am menschlichen und sozialen Elend orientiert – Weberaufstand, Bauernkrieg, Hunger und die miserable Situation des Proletariats. Mehr als 800’000 Besucher waren seit der Eröffnung 1989 hier, davon ein hoher Prozentsatz aus dem Ausland.
Jetzt, zur hundertsten Wiederkehr des Gedenkens an Weltkrieg 1, jener «Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts» (George F. Kennan, 1979), wartet das Museum mit eine besonders herausragenden Schau auf. Bis zum 11. Januar 2015 erlebt der Gast unter dem Titel «Apokalypse – daheim und an der Front» eine Sonderausstellung deutscher Expressionisten mit Werken u. a. von Otto Dix, Ludwig Meitner, Ernst-Ludwig Kirchner, Max Pechstein und George Grosz – allesamt entstanden unter deren Eindrücken während des vierjährigen Völkermordens. Zu sehen sind mehr als 80 Zeichnungen, Holzschnitte, Aquarelle, Lithographien und Radierungen aus den Beständen führender deutscher Museen, aber auch von Privatsammlern.