In Toronto findet alljährlich eine Konferenz über Mensch-Computer-Interaktion statt. Im Jahre 2014 wunderten sich die Teilnehmenden über eine ungewöhnliche Affiche an den Toilettentüren des Konferenzzentrums: „Das Verhalten in diesen Räumen wird zu Analysezwecken aufgezeichnet.“ Eine Privatfirma namens „Quantified Toilets“ führte die Übung durch. Ihr Slogan: Wir analysieren den biologischen Abfall in Gebäuden, um ihre Räume sauberer und die Menschen darin glücklicher zu machen. Ein Team von „Quantified Toilets“ gab ein Müsterchen seiner stupenden uro- und koproskopischen Kunst zum Besten. Nicht nur wurden millilitergenau die Mengen der Ausscheidungen in den einzelnen smarten Klosetts angegeben, die Vertreter von „Quantified Toilets“ sagten aus dem Livestream der Daten einer Toilettenbenutzerin auf den Kopf zu, dass sie schwanger sei; einem Benutzer, dass er einen Blutalkoholspiegel von 0.077 Promille und eine Gonorrhoe habe.
Ein Scherz, der keiner ist
Die Latrinenüberwachung war ein Scherz von Softwaredesignern, um die Diskussion über die Privatsphäre in computerisierten Umwelten – im Internet der Dinge – anzuregen. Kein Scherz ist allerdings die Entwicklung dahinter. Unser Alltag wird bis in die intimsten Nischen durchsetzt mit sensor-armierten Geräten. Die Technologie zielt heute darauf ab, den Konsumenten derart garzukochen, dass er sich gar nicht mehr zu entscheiden braucht. Das tun all die smarten Dinge für ihn. Googles Ex-Boss Eric Schmidt, bekannt für sein Maulheldentum: „Wir wissen, wo du bist. Wir wissen, wo du warst. Wir wissen mehr oder weniger, worüber du nachdenkst.“
Wie weiss Google, wo ich bin, wo ich war, worüber ich nachdenke? Natürlich über die Daten, die all die digitalen Wunderwerke ununterbrochen ausstrahlen; Daten, die in den unauslotbaren Tiefen der Cloud in irgendeinem Datensilo landen, wo sie auf weitere Verwendung warten. Dabei geht es selbstverständlich nicht nur um Ausscheidungen. Eine immer ausgeklügeltere Software der Mustererkennung liest aus meinen Gesichtszügen, meinen Gesten, aus meiner Stimme, meinem Herzschlag die Daten für ein entsprechendes Profil: Meine Klickgeschichte, das bin ich.
Eine neue Soziologie
Es gibt heute eine neue Soziologie, die sogenannte Physik der Netzwerke. Das Grundelement dieser Soziologie ist der Mensch-plus-tragbarer-Computer („wearable“), oder böser: der von den neuen Technologien zugerichtete Mensch. Alex Pentland vom MIT, einer der neuen Soziologen, spricht ruhmredig von einer „Wiedererfindung der Gesellschaft im Sog von Big Data“. Er ist der Erfinder des sogenannten soziometrischen Ausweises („sociometric badge“), einer Art von intelligenter Identitätskarte, die ich auf mir trage, und die ständig meinen Zustand und meine Wege im Netz registriert. „Die Macht der sozialen Physik,“ schreibt Pentland, „leitet sich aus dem Faktum her, dass fast alle unseren alltäglichen Handlungen Gewohnheiten sind und meistens darauf beruhen, was wir durch die Beobachtung anderer gelernt haben.“ Damit zelebriert Pentlands fröhliche Soziologie einen Menschentypus, den sein Kollege David Riesman in den 1950er Jahren durchaus noch kritisch als „aussengeleiteten Charakter“ bezeichnet hatte.
„Humanyzing“ statt Humanisierung
Pentland ist Mitbegründer eines Unternehmens names „Humanyze“, das bio- und soziometrische Überwachungssoftware entwickelt, mit dem Ziel, den Menschen in der Arbeitswelt rundum zufrieden und glücklich zu machen. Man rüstet etwa die Angestellten einer Firma mit einer soziometrischen Identitätskarte aus. In der Identitätskarte befinden sich Ortssensor, Akzelerometer, Mikrophon, die kontrollieren und registrieren, wohin die Leute gehen und mit wem sie sprechen. Pentland malt sich ein Szenario aus, in dem durch entsprechende Sensoren auch „persönliches Energieniveau“ und „Empathie und Extraversion“ gemessen werden können. In einem Experiment im Callcenter einer Bank stellte man zum Beispiel fest, dass die Produktivität durch Optimierung des Kaffeepausenplans verbessert werden kann. Wahrscheinlich sind noch bahnbrechendere Erkenntnisse zu erwarten.
Bis unter die Haut glücklich
Die Mittel heiligen den Zweck: die Supervision. Die Implementierung breitet sich unaufhaltsam aus. Bereits gibt es unter die Haut implantierbare Identität-Chips, zum Beispiel VeriChip, mit dem ich über Radiofrequenz erkennbar und anpeilbar bin. Er wurde von den US-Behörden 2004 zugelassen. Aber trotz des süssholzraspelnden Namens humanisiert „Humanyze“ den Menschen nicht, sondern transmutiert ihn zum total lesbaren sozialen Atom ohne Innenleben. Wir sollten misstrauisch werden, wenn uns die Gurus des digitalen Zeitalters versichern, alles komme uns zugute. Pentlands „Wiedererfindung der Gesellschaft“ läuft auf eine Zweiklassen-Gesellschaft hinaus: von Menschen mit und ohne elektronische Identität. „Humanyzed“ wird der Mensch bis unter die Haut glücklich sein, denn Glück bedeutet jetzt – Gottfried Benn leicht abgeändert – dumm sein und einen Chip haben.